Ein Jahr voller Wunder
kaute, schluckte, trank einen vorsichtigen Schluck Kaffee. Er war gegen das Hamstern meiner Mutter.
»Helen«, sagte er. »Da drin stehen sechs Gläser.«
»Hältst du das für einen Witz?«, fragte sie. »Auf CNN hat ein Typ gesagt, wir haben möglicherweise nur noch ein paar Wochen, bevor alles zusammenbricht.«
In ihrer Wut stolperte meine Mutter über die blaue Keramikschüssel, die wir als Wassernapf für die Katzen benutzten. »Mist«, sagte sie. Eine Miniflut schwappte über den Fliesenboden.
»Bis was zusammenbricht?«, fragte ich.
» So was hab ich nicht gehört«, sagte mein Vater.
Daraufhin bekam die Stimme meiner Mutter ein tiefe, ernste Lage: »Tja, dann hörst du vielleicht nicht zu .«
Falls mein Vater etwas entgegnete, bekam ich es nicht mit, weil ich mich nach oben verdrückte. Sehr wahrscheinlich wandte er sich einfach wieder der Zeitung zu.
Was ging in seinem Kopf vor? Bald sollte ich begreifen, dass er nur einem Bruchteil der Gedanken, die dort kreisten, Ausdruck verlieh. Es war da drin nicht annähernd so ordentlich und ruhig, wie es den Anschein hatte. Andere Leben wohnten in diesem Kopf, Parallelwelten. Vielleicht sind wir alle ein bisschen so angelegt. Aber die meisten von uns machen Andeutungen. Die meisten geben Hinweise. Mein Vater war vorsichtiger.
Wenn ich mich jetzt an diesen Moment in der Küche erinnere, kommt mir ein fast unglaublicher Gedanke in den Sinn: Es gab eine Zeit, als diese beiden Menschen – der über den Tisch gebeugt sitzende Mann und die laut schimpfende Frau in dem Bademantel – jung waren. Der Beweis dafür waren die Bilder an den Wohnzimmerwänden, ein hübsches Mädchen und ein Bücherwurm, eine Einzimmerwohnung in einem morschen Gebäude in Hollywood mit Ausblick auf einen Hinterhof und einen nierenförmigen Pool. Das war die mythische Zeit vor meiner Geburt, als meine Mutter keine Mutter war, sondern eine Schauspielerin, die eines Tages, ja, jederzeit, vielleicht schon bald den Durchbruch schaffen könnte, eine ernsthafte junge Frau mit einem schönen Gesicht. Wie viel angenehmer das Leben wäre, wenn alles umgekehrt passieren würde, wenn man nach Jahren der Enttäuschungen schließlich ein Alter erreichte, in dem man keine Zugeständnisse gemacht hatte, in dem alles möglich war. Ich denke gern darüber nach, wie das Leben meiner Eltern einst vor ihnen schimmerte, halb verborgen, wie vergrabenes Gold. Damals war die Zukunft, was auch immer sie sich ausmalten – und das hier hatten sie sich nicht ausgemalt.
Aber empfindet man nicht jede vorangegangene Epoche als etwas Erfundenes, wenn sie erst vorbei ist? Nach einer Weile bleiben nur noch veraltete Redensarten übrig. Jahrzehnte nach der Erfindung des Automobils zum Beispiel ermahnen wir einander, das Pferd nicht beim Schwanz aufzuzäumen . Und so haben wir heute noch Tagträume und Nachtruhe , und die frühen Stunden der Uhrenzeit kennt man umgangssprachlich weiterhin (wenn auch zunehmend rätselhaft) als im Morgengrauen . Gleichermaßen hörten meine Eltern, sogar als sie sich auseinanderlebten, nicht auf, einander Liebling zu nennen.
Meine Eltern gingen sich den ganzen Nachmittag aus dem Weg. Meine Mutter korrigierte Klassenarbeiten im Schlafzimmer. Mein Vater fuhr meinen Großvater besuchen. Er fragte mich nicht, ob ich mitkommen wollte, wie er es sonst tat. Und ich schloss mich nicht freiwillig an. Eine drückende Stille senkte sich über das Haus.
Eins kann ich über diesen ersten Sonntag nach der Uhr sagen: Die Zeit verging wie im Flug. Wir hatten uns schon ziemlich an die langen, faulen Tage gewöhnt. Aber jetzt raste der Vormittag dahin. Der Mittag hetzte in unmenschlichem Tempo vorbei. Die Stunden überschlugen sich hastig eine nach der anderen, als rutschten sie einen Berg hinunter – und es gab plötzlich so wenige!
An jedem anderen Sonntag hätte ich mich zu Hanna geflüchtet.
Jetzt ging ich zu meiner alten Freundin Gabby. Sie wohnte drei Häuser weiter, und wir waren zusammen aufgewachsen; allerdings hatte ich sie nicht oft gesehen, seit sie andauernd in Schwierigkeiten geriet.
»Ich glaube, die Uhrenzeit wird cool«, sagte Gabby, sobald wir oben in ihrem Zimmer waren. Sie saß auf ihrem ungemachten Bett und strich sich eine zweite Schicht schwarzen Lack auf die Fingernägel. Sie wedelte mit dem Fläschchen, aber ich schüttelte den Kopf. Es war ein glänzendes, düsteres Schwarz, und ein paar Tropfen waren auf dem dicken cremefarbenen Teppich gelandet. »Ich geh gern im Dunklen
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