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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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auf seinem Schoß um, ließ die Seiten übereinander gleiten. Ich blieb auf der Klavierbank sitzen und betrachtete eingehend die Tasten.
    Schließlich zog Seth sein Handy aus der Tasche und spielte mit den Daumen ein Spiel. Blecherne Musik ertönte aus dem Telefon wie der Klang eines fernen Karnevals. So, stellte ich mir vor, vertrieb er sich vielleicht die Zeit in Krankenhäusern, während Ärzte seine Mutter operierten oder ihr giftige Chemikalien ins Blut spritzten.
    Ich zog das Gummiband aus meinen Haaren, strich die verhedderten Strähnen glatt und band meinen Pferdeschwanz neu. Mein Atem ging schnell, aber ich versuchte, es zu verbergen.
    Draußen konnte ich die Stimmen kleinerer Kinder hören. Ein Ball klatschte aufs Pflaster. Durch das Fenster glaubte ich, etwas Dunkles vom Himmel fallen zu sehen.
    Einer von Sylvias Finken stieß ein lautes und unvermitteltes Kreischen aus. Seth wandte sich dem Käfig zu. Er beobachtete die Vögel ein paar Sekunden lang. Die Musik aus seinem Spiel plätscherte weiter.
    Endlich sagte ich: »Geht es ihnen gut?«
    Seth zuckte die Achseln und antwortete nicht.
    Ich rutschte von der Klavierbank, um selbst nachzusehen.
    Im Käfig stand unangetastet eine Schale mit Apfelstückchen, das Fruchtfleisch färbte sich an der Luft braun. Zwei Mehlwürmer, die, wie ich von Sylvia wusste, ebenfalls zur Finkennahrung gehörten, schlängelten sich frei in der Schale herum.
    »Sie fressen nicht«, sagte ich.
    »Vielleicht hat sie sie gerade erst gefüttert«, meinte Seth.
    »Oder vielleicht ist es die Krankheit.«
    Von nahem roch Seth nach Waschmittel, aber sein T-Shirt war stark zerknittert – als wäre bei ihm zu Hause das Wäschefalten eine in Vergessenheit geratene Kunst, ein überholter Brauch, der durch das Leiden hinfällig geworden war.
    Ich hörte das Knarren von Sylvias Schritten, während sie oben auf und ab lief. Das Metronom tickte weiter, zerlegte die Zeit auf seine uralte Weise.
    Adagio saß wie ein Miniaturhuhn auf der Zeitung, mit der der Käfigboden ausgelegt war.
    »Der da sieht wirklich schlecht aus«, sagte ich.
    Seth tippte mit einem Finger an die Gitterstäbe.
    »Hey, du kleiner Kerl«, sagte er. »Hier bin ich. Hallo?«
    Das Tippen schreckte den gesünderen Vogel auf, dessen Kopf auf das Geräusch zuschnellte, aber Adagio reagierte nicht.
    Seth sah sich über die Schulter nach Sylvia um. Dann hakte er die Käfigtür auf und klappte sie um. Langsam griff er hinein und berührte den Vogel sachte am Rücken. Er wackelte unter seinem Finger wie ein Ei, und Seth zog die Hand weg.
    »Mist«, sagte er. »Der ist tot.«
    »Bist du sicher?«, fragte ich.
    »Absolut.«
    »Es ist also wirklich die Krankheit.«
    »Vielleicht«, sagte er. »Oder auch nicht. Vielleicht ist er auch an was ganz Normalem gestorben.«
    Oben schnappte die Schlafzimmertür auf. Seth schloss die Käfigtür. Wir sahen einander an, sagten aber nichts. Wir trafen eine schlagartige, schweigende Übereinkunft.
    Nun hörten wir Sylvias Füße auf der Treppe, ihre Hand auf dem Geländer, das schnurlose Telefon wieder in dem Halter auf der Küchenablage landen.
    »Was ist denn los?«, fragte sie, während sie zurückkam, die Spange aus ihrem Haar löste und es dann wieder zusammenband.
    »Nichts«, sagte Seth.
    Er setzte sich in den alten Ledersessel und ließ die langen Arme an den Seiten baumeln.
    »Wir haben uns nur Ihre Vögel angesehen«, sagte ich.
    »Jetzt hör schon auf, dir Sorgen zu machen.« Sie wedelte mit der Hand, als verscheuchte sie ein Insekt. »Denen geht es gut.«
    Sylvia entschuldigte sich, dass sie meinen Unterricht früher beendete, aber sie halte es für besser, jetzt mit Seths anzufangen.
    Während ich meine Sachen zusammenpackte, versuchte ich, Seths Blick aufzufangen, aber er wollte sich nicht auffangen lassen. Ich nahm meine Noten und verließ das Haus, ohne in dem Moment zu wissen, dass ich diese Schwelle nur noch wenige Male in meinem Leben überschreiten würde.
    Ich gewöhnte mich allmählich daran, an den Anblick lebloser Dinge. Seit der Verlangsamung hatte ich viel über die Eigenschaften der Toten gelernt; dass der Körper eines Vogels nach ein paar Tagen in sich zusammensinkt, dass er schwindet, flacher und flacher wird, bis nur noch die Federn und die Füße übrig bleiben.
    Draußen hatte der Himmel ein reines, hartes Blau angenommen, durchzogen von zwei zarten Wolken. In Naturkunde hatten wir angefangen, die Atmosphäre durchzunehmen, und ich hatte mir die Namen aller

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