Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
Vom Netzwerk:
raus.«
    Ihr gefärbtes schwarzes Haar fiel ihr ständig ins Gesicht. Anthrazitfarbener Eyeliner umrandete ihre Augen. Winzige silberne Ohrstecker in Form von Totenschädeln glitzerten an ihren Ohren. Ich erkannte sie kaum noch.
    »Ich wünschte, ich wäre noch auf deiner Schule«, sagte sie.
    »Du hast unsere Schule gehasst«, sagte ich. Als sie anfing zu rauchen und Unterrichtsstunden zu schwänzen, hatten ihre Eltern sie in eine strenge katholische Schule gesteckt.
    »Ja, aber die Mädchen in meiner Klasse sind alles magersüchtige Zicken«, sagte sie.
    Früher schwammen wir jeden Sommer in ihrem Pool und aßen auf den Liegestühlen Chips, während unsere Pferdeschwänze auf dem Rücken trockneten. Aber inzwischen trug Gabby keine Badeanzüge mehr; sie hatte stark zugenommen. Sie hatte ständig Ärger. Hanna hatte sie nicht besuchen dürfen.
    »Meine Mutter hat Angst, dass wir alle sterben«, sagte ich.
    Das Zimmer roch nach Nagellackentferner und Vanille – eine dicke weiße Kerze brannte auf dem Schreibtisch. Zwei karierte Faltenröcke, Gabbys Schuluniform, hingen an einer Stuhllehne.
    »Wir werden ja auch sterben«, sagte Gabby. »Irgendwann.«
    Sie hatte Musik aufgelegt, die ich nicht kannte: die dünne, klare Stimme einer wütenden Frau wurde aus zwei großen schwarzen Lautsprechern durch den Raum geschleudert.
    »Aber sie glaubt, wir werden an dieser Sache sterben«, sagte ich. »Und zwar bald.«
    Gabby blies auf ihre Fingernägel und hielt dann eine Hand zur Begutachtung hoch. Eine Dose Diätlimo sprudelte und zischte auf dem Teppich.
    »Glaubst du, dass du schon mal gelebt hast?«, fragte sie.
    »Nein, eigentlich nicht.«
    Sie hatte ein rotes Tuch über die einzige Lampe gehängt, und das Zimmer war dunkel und stickig. Die Lamellenvorhänge waren zugezogen, trotzdem fielen Streifen von Sonnenlicht durch die Ritzen.
    »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich schon öfter auf der Welt war«, sagte sie. »Ich hab so ein Gefühl, dass ich in jedem meiner Leben jung sterbe.«
    In letzter Zeit gingen mir die Themen aus, über die ich mit anderen Kindern sprechen konnte. Ich wusste nicht mehr, wie man reagierte. Mir fiel nichts zu sagen ein.
    »Hey«, sagte sie. »Willst du ein Tattoo? Ich weiß aus dem Internet, wie das geht.« Sie zeigte auf eine Nähnadel und ein winziges Fass mit schwarzer Tinte, die wie primitives Operationsbesteck neben einer zweiten Kerze auf dem Boden lagen. »Man muss nur eine Nadel in die Flamme halten, sich die Haut in der Form aufritzen, die man haben will, und dann Tinte reingießen.«
    Gabbys Elternhaus war genau wie unser Haus, aber seitenverkehrt. Ihr Zimmer war wie meins, die Grundfläche genau gleich. Zwölf Jahre lang hatten wir zwischen Wänden geschlafen, die von denselben Bauarbeitern errichtet worden waren, und durch exakt gleich große Fenster auf dieselbe verblassende Sackgasse geblickt. Obwohl unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen, waren wir sehr unterschiedlich geworden, zwei Exemplare von Mädchen, die sich jetzt auseinanderentwickelten.
    »Ich mach mir Sonne und Mond aufs Handgelenk«, sagte sie. »Ich kann bei dir auch eins machen, wenn du willst.«
    Die CD war zu Ende. Eine plötzliche Stille erfüllte den Raum.
    »Lieber nicht«, sagte ich. »Wahrscheinlich sollte ich sowieso nach Hause gehen.«
    Vielleicht hatte es schon vor der Verlangsamung angefangen, aber ich bemerkte es erst hinterher: meine Freundschaften lösten sich auf. Alles ging in die Brüche. Es war ein rauer Übergang, der von der Kindheit ins nächste Leben. Und genau wie bei jeder anderen beschwerlichen Reise überlebte nicht alles.
    An jenem Abend, während die Sonne immer weiterschien, kam mein Vater mit einem Teleskop nach Hause.
    »Das ist für dich«, sagte er, als er es in meinem Zimmer aus dem raschelnden Seidenpapier auspackte. »Ich möchte, dass du etwas mehr über Naturwissenschaften lernst.«
    Das Teleskop lag in einer glänzenden Mahagonikiste, ein silbernes Rohr und ein Dreibein aus Titan, das im Sonnenlicht funkelte. Es sah teuer aus. Er stellte es in meinem Zimmer auf und richtete es auf den nach wie vor hellen Himmel. Meine Mutter beobachtete ihn mit verschränkten Armen aus dem Türrahmen. Sie war damals immer ärgerlich auf meinen Vater, und es machte den Eindruck, als wäre sogar dieses Geschenk – in der zwischen ihnen herrschenden verschlüsselten Sprache – auf irgendeine Art ein Affront gegen sie.
    »Da ist der Mars.« Mein Vater kniff ein Auge zu, während er das

Weitere Kostenlose Bücher