Ein Jahr voller Wunder
fragte Sylvia.
Sie hatte dunkle, ernste Augen, und sie schminkte sich nie. Ihre Haut war glatt und gebräunt, ihre Arme und Beine mit Sommersprossen gesprenkelt, von der Sorte, die unter der Haut zu liegen schienen, wie Krümel, die in Milch versinken.
»Ich glaube, die Verlangsamung der Erde gibt den Vögeln einfach nur den Rest. Seit Jahren vergiften wir den Planeten und seine Geschöpfe. Und jetzt müssen wir zu guter Letzt dafür büßen.«
Dieses Argument hatte ich auch im Fernsehen gehört, dass die Ursachen des Vogelsterbens vielfältig, langjährig und unsere Schuld seien: Pestizide und Umweltverschmutzung, Klimawandel und saurer Regen, die Strahlung, die von Handymasten ausging. Die Verlangsamung, meinten manche, habe schlicht den Ausschlag in genau die falsche Richtung gegeben und die Vögel gegenüber den menschengemachten Bedrohungen, gegen die sie seit Jahren ankämpften, verletzlicher gemacht.
»Ich glaube, der Planet ist seit langer Zeit aus dem Gleichgewicht, und diese ganze Sache ist seine Art, sich wieder ins Lot zu bringen«, fuhr Sylvia fort. Sie war eine Frau, die in einem Gewächshaus hinter dem Haus Weizengras anpflanzte und sich daraus ihren eigenen Weizengrassaft presste. »Wir können nichts anderes tun, als dem nachzugeben. Wir müssen uns von der Erde leiten lassen.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Und das langsame Drehen des Türknaufs stürzte mich in die nächste Verlegenheit – der nächste Schüler kam, und ich wusste, wer es wäre. Seit der Sonnenfinsternis hatte ich nicht mit Seth Moreno gesprochen.
Das Klimpern eines Windspiels aus Muscheln hallte von der Terrasse herein und wurde vom sanften Zuschlagen der Tür gefolgt. Ich hörte mein Herz im Kopf hämmern. Normalerweise trafen Seth und ich hier nur für ein, zwei Momente zusammen, schlüpften im Flur rasch aneinander vorbei, beschränkten uns auf ein knappes Kopfnicken statt einer Begrüßung.
»Ich wusste nicht genau, wann ich kommen sollte«, sagte Seth. Seine Turnschuhe quietschten auf dem Holzfußboden. Er warf den Kopf nach rechts, weil ihm sein zottiger Pony in die Augen hing. Seine Haare waren noch feucht, frisch aus der Dusche und davor, wie ich zufällig wusste, aus dem Fußballtraining. »Wegen der Uhren und allem.«
Eine Nussbaumstanduhr im Wohnzimmer zeigte eine unsinnige Zeit an – zehn Uhr –, aber es war mitten am Nachmittag. Mittlerweile hatte ich gelernt, Uhren generell zu ignorieren.
»Deshalb bin ich einfach auf Verdacht gekommen«, sagte er und schob seine Noten von einem Arm in den anderen.
»Das ist wunderbar, Seth«, sagte Sylvia. »Wir brauchen nur noch ein paar Minuten.
Er setzte sich auf einen abgewetzten Ledersessel in der Ecke neben dem Vogelkäfig. Über seinem Kopf hing ein Topffarn in einer Makrameeblumenampel an der Decke. Es muss gewisse Einzelheiten der Inneneinrichtung geben, an die ich mich nicht mehr erinnere, aber wenn ich die Augen schließe, habe ich den Eindruck, dass das gesamte Haus und sein Inhalt bis zum heutigen Tag in meinem Gedächtnis noch intakt sind, unverändert wie der Tatort eines Verbrechens, genau wie es einmal war.
Sylvia räusperte sich, und wir machten weiter mit dem Unterricht. »Für Elise«, sagte sie und stellte das Metronom wieder ein. »Noch einmal ganz durch.«
Ich hatte gerade die ersten Noten gespielt, als das Telefon in der Küche klingelte. Sylvia beachtete es nicht, aber es klingelte erneut. Das Geräusch schien die Finken aufzuregen, die kreischten und aus ihrem Käfig riefen. Sylvia stand auf, um abzuheben, doch der Anrufbeantworter sprang an und ließ das erste Kratzen einer Männerstimme durchs Haus schallen.
Sie nahm den Hörer ab und schaltete den Apparat aus. Offenbar wusste sie, wer dran war.
»Ich unterrichte gerade«, sagte sie, als wäre sie ärgerlich. »Schon vergessen?«
Doch sie wirkte erfreut und verlegen, ihr Gesicht das einer viel jüngeren Frau. Sylvia war damals um die vierzig.
Ich hatte sie noch nie mit einem Mann zusammen gesehen. Ich stellte mir einen staubigen Naturburschen mit Pferdeschwanz und Bart vor, der per Handy aus einem Pick-up oder VW-Bus anrief.
Sylvia drückte sich das Telefon auf die Schulter und bedeutete Seth und mir, sie käme gleich zurück. Dann ging sie nach oben, den Hörer ans Ohr gepresst, während der Saum ihres weißen Leinenkleids beim Laufen über ihre Beine strich.
Seth und ich waren allein im Wohnzimmer. Keiner von uns rührte sich vom Fleck. Er sortierte die Notenhefte
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