Ein Jahr voller Wunder
Bilder, die man im Fernsehen zeigen konnte, keine brennenden Gebäude oder eingestürzten Brücken, kein verdrehtes Metall oder versengte Erde, keine Häuser, die von Fundamenten abrutschten. Niemand war verletzt. Niemand war tot. Es war, zu Anfang, eine ziemlich unsichtbare Katastrophe.
Ich glaube, das erklärt, warum ich zuerst keine Angst empfand, sondern Nervenkitzel. Es war ein wenig aufregend – ein plötzlicher Funke inmitten des Alltäglichen, der Schimmer des Unerwarteten.
Aber meine Mutter war zu Tode erschrocken.
»Wie konnte das passieren?«, fragte sie.
Unentwegt steckte sie sich eine Spange ins Haar und zog sie wieder heraus. Es war dunkel und schön, zum Teil dank einer tiefbraunen Färbung.
»Vielleicht war es ein Meteor?«, sagte ich. In Naturkunde hatten wir das Universum durchgenommen, und ich hatte die Anordnung der Planeten auswendig gelernt. Ich kannte die Namen sämtlicher Dinge, die im All herumschwebten. Es gab Kometen und schwarze Löcher und Haufen von riesigen Gesteinsbrocken. »Oder vielleicht eine Atombombe?«
»Das war keine Atombombe«, sagte mein Vater. Die Muskeln an seinem Kiefer spannten sich an, während er dem Geschehen auf dem Bildschirm folgte. Er stand mit verschränkten Armen und breitbeinig da. Hinsetzen wollte er sich nicht.
»Bis zu einem gewissen Grad können wir uns anpassen«, sagte ein Wissenschaftler im Fernsehen gerade. Man hatte ihm ein winziges Mikrofon an den Kragen gesteckt, und ein Nachrichtensprecher bohrte nach den dunkleren Möglichkeiten. »Aber falls die Erdrotation sich weiter verlangsamt – und das ist jetzt reine Spekulation –, würde ich sagen, dass wir mit radikalen Wetterveränderungen zu rechnen haben. Wir würden Erdbeben und Tsunamis erleben. Möglicherweise sterben massenhaft Pflanzen- und Tierarten aus. Die Meere könnten sich nach und nach Richtung Pole verschieben.«
Hinter uns raschelten unsere Lamellenvorhänge in der Brise, und in der Ferne surrte ein Hubschrauber, das Knattern der Rotorblätter wehte durch die Fliegengitter ins Haus.
»Aber was um alles in der Welt kann so etwas verursachen?«, fragte meine Mutter.
»Helen«, sagte mein Vater. »Ich weiß auch nicht mehr als du.«
Wir alle vergaßen das Fußballspiel an diesem Tag. Mein Trikot würde den ganzen Tag gefaltet in einer Schublade bleiben. Meine Schienbeinschützer lagen unbenutzt unten in meinem Kleiderschrank.
Später hörte ich, dass nur Michaela zum Spiel auftauchte, wie üblich zu spät, die Stollenschuhe in der Hand, die langen Haare offen, so dass ihr die roten Locken in und aus dem Mund flogen, als sie auf Socken den Hügel hinauf zum Platz rannte – nur um festzustellen, dass kein einziges Mädchen sich aufwärmte, kein einziges blaues Trikot im Wind flatterte, kein einziger geflochtener Zopf hüpfte, weder Eltern noch Trainer auf dem Rasen standen. Keine Mütter mit Sonnenkappen schlürften Eistee, keine Väter in Flipflops stapften am Spielfeldrand auf und ab. Der obere Parkplatz, musste sie in dem Moment bemerkt haben, war leer. Nur die Netze waren noch da und blähten sich lautlos in den Toren, als einziger Beweis, dass jemals auf diesem Platz Fußball gespielt worden war.
»Und du kennst ja meine Mutter«, erzählte Michaela mir Tage später in der Mittagspause, in Nachahmung der sexyeren Siebtklässlerinnen an eine Mauer gelehnt. »Bis ich wieder unten auf den Parkplatz kam, war sie weg.«
Michaelas Mutter war die jüngste Mutter. Selbst die glamourösesten der anderen Mütter waren damals mindestens fünfunddreißig, und meine war schon vierzig geworden. Michaelas hingegen war erst achtundzwanzig, was ihre Tochter zwar abstritt, wir alle jedoch für wahr hielten. Ihre Mutter hatte immer einen anderen Freund an ihrer Seite. Ihre glatte Haut und ihr straffer Körper, die hohen Brüste und schlanken Oberschenkel bildeten zusammen die Quelle von etwas Beschämendem, was wir, wenn auch nur schwach, wahrnahmen. Michaela war das einzige Kind, das ich kannte, das in einer Mietwohnung lebte, und von einem Vater war nie die Rede.
Michaelas junge Mutter hatte die Nachrichten einfach verschlafen.
»Du hast nichts darüber im Fernsehen gehört?«, fragte ich Michaela später in der Woche.
»Wir haben kein Kabel, schon vergessen? Ich mach das Ding überhaupt nie an.«
»Und was ist mit dem Autoradio?«
»Kaputt«, sagte sie.
Schon an normalen Tagen war Michaela ständig darauf angewiesen, mitgenommen zu werden. An jenem ersten Tag der Verlangsamung
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