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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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überleben.
    »Ach, Helen«, sagte er. »Du weißt doch, dass ich nicht bleiben kann.«
    Er stand auf und klopfte seine Taschen ab. Ich hörte das gedämpfte Klimpern von Schlüsseln.
    »Wir brauchen dich hier«, sagte meine Mutter. Sie lehnte den Kopf mit der Seite an die Brust meines Vaters – er war gute dreißig Zentimeter größer. »Wir möchten wirklich nicht, dass du gehst, stimmt’s, Julia?«
    Ich wollte auch, dass er blieb, aber ich war eine Expertin in Diplomatie geworden, wie es nur ein Einzelkind kann.
    »Ich wünschte, er müsste nicht weg«, sagte ich vorsichtig. »Aber wenn es eben nicht anders geht .«
    Da wandte sich meine Mutter von mir ab und sagte etwas leiser: »Bitte. Wir wissen nicht mal, was eigentlich los ist.«
    »Komm schon, Helen.« Er strich ihr übers Haar. »Sei nicht so theatralisch. Bis morgen früh wird nichts passieren. Ich wette, die ganze Sache löst sich sowieso in Wohlgefallen auf.«
    »Wie denn?«, fragte sie. »Wie stellst du dir das vor?«
    Er küsste sie auf die Wange und winkte mir aus dem Flur zu. Dann ging er hinaus und zog die Tür zu. Bald hörten wir sein Auto in der Auffahrt anspringen.
    Meine Mutter ließ sich neben mir auf die Couch fallen. »Wenigstens du lässt mich nicht im Stich«, sagte sie. »Dann müssen wir uns eben umeinander kümmern.«
    In dem Moment wäre ich gern zu Hanna geflüchtet, aber ich wusste, es würde meine Mutter aufregen, wenn ich ginge.
    Von draußen plätscherten Kinderstimmen ins Wohnzimmer. Durch die Vorhänge sah ich die Familie Kaplan über den Bürgersteig laufen. Samstag war ihr Sabbat, was bedeutete, sie fuhren den ganzen Tag nicht Auto. Inzwischen waren sie zu sechst: Mr und Mrs Kaplan, Jacob, Beth, Aaron und das Kleine im Sportwagen. Die Kinder gingen auf die jüdische Tagesschule im Norden, und sie kleideten sich überwiegend schwarz, auf eine Art, die mich an die Figuren in alten Filmen erinnerte, ein Geflatter langer Röcke und schwarzer Hosen. Beth Kaplan war in meinem Alter, doch ich kannte sie nicht gut. Sie blieb für sich. Sie trug ein langärmliges Oberteil und einen langen, rechteckigen schwarzen Rock, aber schicke rote Lacklederschuhe. Ich dachte mir, die Fußbekleidung sei ihre einzige Möglichkeit, zu glänzen. Als sie an unserem Haus vorbeizogen – das kleinste Kind pflückte Löwenzahn am Rande unseres Rasens –, fiel mir ein, dass sie vielleicht noch gar nichts von der Verlangsamung wussten.
    Viel später hörte ich von Jacob, dass ich Recht gehabt hatte: Erst bei Sonnenuntergang, als ihr Sabbat vorüber war und ihre Religion ihnen wieder das Anknipsen von Lichtschaltern und das Fernsehen gestattete, erfuhren die Kaplans, dass diese Welt sich von der unterschied, in die sie geboren worden waren. Wenn man keine Nachrichten hörte, sah die Landschaft unverändert aus. Später traf das natürlich nicht mehr zu, aber vorläufig, an diesem ersten Tag, schien die Erde noch sie selbst zu sein.
    Wir wohnten in einer Sackgasse einer Siedlung von gleichförmigen Häusern, die in den 1970ern auf jeweils eintausend Quadratmeter großen Grundstücken mit verputzten Außenmauern und Asbest in Decken und Wänden gebaut worden waren. In jedem Vorgarten krümmte sich ein Olivenbaum, falls er nicht herausgerissen und durch einen angesagteren, durstigeren Baum ersetzt worden war. Die Gärten in unserer Straße waren gepflegt, aber nicht übertrieben. Gänseblümchen und Löwenzahn wuchsen über das lichte Gras verteilt. Rosa Bougainvilleen schmiegten sich an die Seiten fast aller Häuser, schwankten und schimmerten im Wind.
    Auf Satellitenkarten dieser Zeit sieht unsere Reihe von Sackgassen ordentlich und parallel aus, jede mit einer dicken Ausbuchtung am Ende, wie zehn an einer Schnur hängende Thermometer. Sie gehörten zu einem Netz bescheidener Straßen, die in die weniger teure, dem Meer abgewandte Seite eines Hügels nahe der Küste gegraben worden waren.
    Unsere Vormittage damals waren hell. Die Küchen lagen nach Osten. Sonne strömte durch die Fenster herein, während Kaffeemaschinen gluckerten und Duschen prasselten, während ich mir die Zähne putzte oder ein Outfit für die Schule aussuchte. Unsere Nachmittage waren schattig und kühl, weil die Sonne jeden Abend eine volle Stunde, ehe sie auf der anderen Seite ins Meer rutschte, hinter den schöneren Häusern oben auf dem Hügel verschwand. An diesem Tag warteten wir mit neuer Spannung auf den Sonnenuntergang.
    »Ich glaube, sie hat sich ein bisschen bewegt.« Ich

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