Ein Jahr voller Wunder
nichts an, wie sie ihr Leben führt«, sagte mein Vater.
»Ich besorge dir eine neue Lehrerin«, sagte meine Mutter. »Und damit Schluss.«
Nicht alle gaben den Unterricht bei Sylvia auf. Seth zum Beispiel ging noch eine Zeitlang jede Woche hin. Ich wusste nie genau, wann er käme, aber hin und wieder hörte ich in meinem Zimmer das Knirschen seines Skateboards auf dem Asphalt vor Sylvias Haus und dann sorgte ich dafür, dass ich gerade zum Briefkasten lief, wenn er wieder ging, oder lässig mit einer Sonnenbrille den Rasen sprengte, die Haare frisch zum Zopf geflochten. Manchmal nickte Seth mir zu. Manchmal nicht. Wir sprachen nie miteinander.
Tom und Carlotta, die in unserer Straße wohnten, bekannten sich sofort öffentlich zur Echtzeit. Es war wohl keine Überraschung, dass sie sich gegen die Uhrenzeit sträuben würden – auf ihrem Dach funkelte ein Dutzend Sonnenkollektoren, und sie fuhren zwei klapprige Pick-ups mit abblätternden Peace-Zeichen und uralten, sonnengebleichten Aufklebern, die neben anderen optimistischen Träumen forderten: Make Love Not War . Tom war ein pensionierter Kunstlehrer, der eine Hanfkette und löchrige Jeans voller Farbkleckse trug. Carlottas langes graues Haar reichte ihr bis zur Taille, ein Schatten, vermutete ich, eines jüngeren und sexyeren Ichs.
Ein paar Tage nach der Rückkehr zur Uhrenzeit stand ein neues Schild in einer Ecke ihres Vorgartens. Es war klein und weiß und ähnelte dem vor Mr Valencias Haus, das Passanten darauf aufmerksam machte, dass das Domizil der Valencias von einer Safelux-Alarmanlage geschützt wurde. Tom und Carlottas neues Schild verkündete eine andere Botschaft: Dieser Haushalt lebt nach Echtzeit .
»Meine Mutter glaubt, sie sind Drogendealer«, erzählte Gabby, die gleich nebenan wohnte. Ihre Mutter, eine Anwältin, klackerte in hochhackigen Schuhen und marineblauen Kostümen durch die Gegend. »Sie glaubt, die beiden züchten massenhaft Gras in ihrem Haus.«
»Ehrlich?« Ich war an diesem Samstag bei Gabby vorbeigegangen, weil ich nichts anderes vorhatte. Wir saßen in ihrem Zimmer herum.
»Das ist natürlich totaler Schwachsinn«, sagte Gabby. »Für meine Mutter ist einfach nur jeder, der irgendwie anders ist, kriminell.«
Auf der Innenseite von Gabbys rechtem Handgelenk hatte sich Schorf in Form einer Sonne und einer perfekten Mondsichel gebildet. Als ihre Eltern die Narben entdeckt hatten, schickten sie sie zu einem Psychiater, bei dem sie nun jede Woche einen Termin hatte.
»Stell dir mal vor«, fuhr sie fort. »Ich hab so einen Typen im Internet kennengelernt, und er glaubt, es gibt so was wie eine Revolution.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Er meint, Millionen von Leuten werden wegen der Uhrenzeit gegen die Regierung kämpfen.«
Während wir anderen Sonnenlichtlampen erwarben und zum Schlafen in den weißen Nächten Jalousien anbrachten, versuchten mehrere tausend Amerikaner, im Einklang mit dem Tageslicht zu leben. Der menschliche Körper könne sich anpassen, behaupteten sie, gemeinsam mit der Erde. Jetzt schon stelle ihr Biorhythmus sich um, berichteten sie, dehne sich schrittweise wie Gummi. Sie schliefen einfach länger, blieben mehr Stunden wach, äßen eine vierte Mahlzeit am späten Nachmittag.
Manchmal hörte ich mitten in unserer Nacht draußen Tom und Carlotta. An sonnigen Abenden arbeiteten sie in ihrem Garten, während wir übrigen zu schlafen versuchten. Ich erinnere mich an den metallischen Klang der Gartenschere, das Schlurfen von Sandalen auf dem Bürgersteig, ihre Stimmen in der stillen Luft. Es war wie ein Spuk: zwei Zeitdimensionen, die ein und denselben Raum einnahmen.
In Naturkunde schlängelten sich in jener Woche unsere Schmetterlinge aus ihrem Kokon. Es passierte in der fünften Stunde, der letzten des Tages, aber die Sonne ging eben erst auf. Wir hatten gelernt, dass Schmetterlinge fast immer morgens schlüpfen.
»Seht ihr?«, sagte Mr Jensen, einen Kaffeebecher in der Hand. »Die kann man nicht austricksen. Sie wissen genau, dass es Morgen ist.«
Alle sahen wir ihnen zu, wie sie hüpften und flatterten und dann in den Himmel flogen. Wir wussten natürlich, was diese Schmetterlinge nicht wussten: Wie kurz und hart ihr Leben sein würde.
Ich weiß noch, dass Mr Jensens Augen an jenem Tag rot und wässrig aussahen. Er wirkte erschöpft, sein Pferdeschwanz zottiger als sonst, sein Bart ein bisschen wilder.
Am folgenden Montag saß an Mr Jensens Metallschreibtisch eine junge Frau in einem
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