Ein Jahr voller Wunder
ständig ihre Knöchel knacken.
»Ach, ich weiß auch nicht«, sagte ich. »Ganz gut.«
Traceys große glänzende Augen beobachteten mich eingehend. Alle paar Sekunden ertönte das Krachen ihrer kleinen Gelenke.
»Ich bin hypergelenkig«, sagte sie, als sie sich die linke Hand vornahm.
»Eigentlich«, sagte ich, »war es hier super. Echt super.«
Tracey und Hanna wechselten einen schnellen Blick.
Der Gong erklang, und Hanna stöhnte. »Mann, ich wünschte, ich wäre noch in Utah, du nicht?«
»Total«, sagte Tracey. »Total.«
Wir standen auf und wuchteten uns die Rucksäcke auf die Schultern. Die beiden entfernten sich langsam vom Tisch.
»Bis später«, sagte ich, aber sie hörten mich nicht – oder zumindest machte es den Eindruck. Sie liefen bereits zusammen auf das Labor zu, im Gleichschritt. Ich musste auch in die Richtung, aber ich nahm den langen Weg und ging allein.
Beim Fußballtraining am Nachmittag kam Hanna zu spät und sprach kaum mit mir. Es war derselbe Platz, auf dem wir früher zwischen den Übungen pausenlos getuschelt hatten, aber an diesem Tag sagte sie meinen Namen nur einmal, und nur als Stürmerin gegenüber einer Mittelfeldspielerin beim Abschlussspiel: »Julia«, rief sie, als ich den Ball am Fuß hatte. »Hier drüben, ich bin frei.«
Hinterher, als wir verschwitzt und rotgesichtig darauf warteten, von unseren Müttern abgeholt zu werden, spielte Hanna mit ihrem Telefon.
»Möchtest du dieses Wochenende zu uns kommen?«, fragte ich.
»Ich kann nicht.«
Mir gefiel nicht, dass sie beim Sprechen gar nicht von ihrem Handy aufblickte. Ich war mir sicher, dass sie Tracey SMS schrieb, die zweifellos prompt ähnliche Botschaften zurückschickte.
»Warum bist du so?«, fragte ich.
»Was meinst du?« Hanna lächelte etwas und biss sich auf die Unterlippe. Ihr langer blonder Zopf hing ihr über die Schulter. Sie sah mir nicht in die Augen. »Ich mach doch gar nichts.«
Etwas an ihrer ausweichenden Miene kam mir bekannt vor. In dem Moment erinnerte ich mich an eine blasse Rothaarige namens Alison, die vor mir Hannas beste Freundin gewesen war. Das war Jahre her, in der vierten Klasse, aber ich wusste noch, wie Alison sich manchmal auf dem Spielplatz in unserer Nähe herumgedrückt, wie Hanna sie geschnitten hatte, während wir unsere Kunststücke am Gerüst übten, wo nur Platz für zwei war. »Die nervt mich so«, hatte Hanna immer zu mir gesagt, wenn Alison sich näherte – und dann Alison mit dem gleichen falschen Lächeln angesehen, das sie mir gerade zeigte.
An jenem Abend war ich zu aufgewühlt, um einzuschlafen. Ich stand auf und zerschnitt das Armband, das ich für Hanna knüpfte. Dann steckte ich die Stücke zusammen mit dem Bettelarmband, das sie mir geschenkt hatte, in einen Schuhkarton und schob ihn in die hinterste Ecke des Schranks. Hinterher fühlte ich mich kein bisschen besser.
Die Tage vergingen. Uhrenmorgen, Uhrenabende. Dunkelheit und Licht trieben über uns hinweg wie vorbeiziehende Gewitter, nicht mehr länger an unsere Tage oder unsere Nächte gekettet. Die Dämmerung setzte manchmal mittags ein; die Sonne ging bisweilen erst abends auf und erreichte ihren höchsten Punkt mitten in der Uhrennacht. Schlafen war schwierig. Aufwachen noch schwerer. Schlaflose wanderten durch die Straßen. Und die Erde drehte sich weiter, Tag für Tag immer langsamer. Während meine Mutter Kerzen und Handbücher für Überlebenskünstler hortete, entwickelte ich eine andere Form von Überlebenskunst: Ich lernte, allein zu sein.
»Warum gehst du nicht Hanna besuchen?«, fragte meine Mutter oft nachmittags. »Sie würde sich sicher sehr freuen.«
Aber Hanna war in diesen Tagen immer bei Tracey.
»Die Uhrenzeit bleibt nicht«, sagte Sylvia bei meiner wöchentlichen Klavierstunde. Ihr Wohnzimmer leuchtete im Dunklen. Es war drei Uhr nachmittags und draußen pechschwarz. Seth erschien an dem Tag nicht zum Unterricht. Ich wusste nicht, warum, und Sylvia sagte es nicht.
»Du wirst schon sehen«, sagte sie. »Früher oder später wechseln wir zurück zur Echtzeit. Verlass dich drauf.«
Aber ich war davon nicht überzeugt. Vielmehr hatte ich so eine Ahnung, dass wir eines Tages, falls wir überlebten, Geschichten erzählen würden, wie es früher einmal auf der Erde war.
Eines, was mich beeindruckt, wenn ich an diesen Zeitraum zurückdenke, ist, wie schnell wir uns umstellten. Was einst vertraut gewesen war, wurde immer fremder. Wie eigenartig es uns bald vorkommen würde, dass
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