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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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sie starb zu Hause, mitten in einer langen, weißen Nacht.
    Ich verfasste einen Beileidsbrief auf einer der Grußkarten meiner Mutter, auf deren Vorderseite Van Goghs Sternennacht glänzte. Ich wollte etwas Wichtiges und Richtiges übermitteln. Aber schnell strich ich alles wieder durch und zog eine neue Karte aus der Schachtel. Dieses Mal schrieb ich nur einen Satz, vier Worte: Es tut mir leid . Ich setzte meinen Namen darunter und steckte sie in den Briefkasten.

14
    E nde November hatten unsere Tage sich auf vierzig Stunden ausgedehnt.
    Es war eine Zeit der Extreme. Jedes Mal, wenn sie aufging, brannte die Sonne noch länger, heizte unsere Straße auf, bis man sie barfuß nicht mehr betreten konnte. Regenwürmer verbrutzelten auf Terrassen. Blumen verwelkten in ihren Beeten.
    Und die Phasen der Dunkelheit schleppten sich, wenn sie kamen, genauso dahin wie das Tageslicht. Die Luft kühlte sich während der zwanzig Nachtstunden ab wie das Wasser am Grunde eines Sees. In ganz Kalifornien erfroren Trauben an den Rebstöcken, Orangenhaine verkümmerten im Dunklen, das Fleisch von Avocados wurde schwarz von den Frösten.
    Dutzende experimenteller Biosphären wurden für den Anbau lebensnotwendiger Nutzpflanzen in Auftrag gegeben, und die Samen von tausend empfindlichen Spezies wurden eilig in eine Saatbank nach Norwegen geschafft.
    Einige Wissenschaftler mühten sich ab, das künftige Tempo der Verlangsamung zu berechnen und ihre sich vervielfachenden Auswirkungen aufzuzeigen, während andere den Standpunkt vertraten, die Welt könne immer noch von allein wieder ins Lot kommen. Aber manche verzichteten lieber auf jegliche Prognose und verglichen diese neue Wissenschaft mit der Vorhersage von Erdbeben oder Gehirntumoren.
    »Wird es uns ergehen wie den Vögeln?«, fragte ein uralter Klimaforscher in einem Interview in den Abendnachrichten. Seine dunklen Augen schmiegten sich in dicke Falten sommersprossiger Haut. »Vielleicht ja«, sagte er. »Ich weiß es einfach nicht.«
    Aber Adrenalin klingt, wie jede andere Droge, ab. Und Panik überschreitet irgendwann, wie jede andere Flut, ihren Höhepunkt. Sechs oder sieben Wochen nach dem Beginn der Verlangsamung breitete sich eine gewisse Langeweile aus. Die tägliche Zählung neuer Minuten verschwand von den Titelseiten der Zeitungen. Und Fernsehberichte zum Thema waren kaum noch unterscheidbar von den normaleren schlechten Nachrichten, die jeden Abend in unsere Wohnzimmer strömten und weitgehend unbeachtet blieben.
    Die wenigen Menschen, die sich gegen die Uhrenzeit entschieden hatten, machten weiter, lebten wie Sojasprossen, reagierten auf Sonnenlicht, wenn es auftauchte, und verfielen in einen Schlummerzustand, sobald unser Fleckchen Erde in die Dunkelheit rutschte. Jetzt schon erschienen uns diese Echtzeiter sehr fremd, ihre Gebräuche unvereinbar mit unseren. Sie wurden allgemein als Freaks betrachtet. Wir verkehrten nicht mit ihnen.
    Die Handvoll, die in unserer Straße wohnte, wurde in jenem Herbst nicht auf die Gästeliste des Straßenfestes aufgenommen, das jedes Jahr am Abend vor Thanksgiving auf dem Platz am Ende unserer Sackgasse veranstaltet wurde. Orangefarbene Flugblätter wurden vor alle Türen außer ihren gelegt.
    Später in derselben Woche enthüllte ein Sonnenaufgang hundert Streifen Toilettenpapier, die an Sylvias Olivenbaum flatterten. Tom und Carlottas Haus war dieselbe Behandlung zuteilgeworden. Ich beobachtete Sylvia von meinem Zimmer aus, als sie vorsichtig das Papier aus ihren Rosensträuchern zupfte. Sie machte eine kurze Pause, die Hände in den Hüften, und sah sich unter dem breiten Rand ihres Strohhutes um, als schlichen die Übeltäter vielleicht noch in der Nähe herum. Dann holte sie eine Trittleiter aus ihrer Garage. Aber sie konnte nicht jedes Stückchen erreichen. Wochenlang noch hingen Toilettenpapierfetzen in den höchsten Ästen.
    Die Familie Kaplan wurde irgendwann geoutet. Sie hatten sich um ihres Sabbats willen, der an jedem siebten Tag von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang dauerte, von der Uhrenzeit gelöst, es aber vor der Nachbarschaft geheim gehalten. Sobald es heraus war, wurde die älteste Tochter Beth nie wieder gebeten, das Kleinkind der Swansons zu babysitten. Und wir hatten noch seltener mit ihnen zu tun als vorher.
    Damals verbrachte ich viel Zeit damit, Sylvia durch mein Teleskop zu beobachten.
    In weißen Nächten sah ich sie möglicherweise mitternachts ihre Rosen gießen oder um drei Uhr Nudeln in einen Topf

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