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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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unsere Sonne früher so berechenbar wie ein Uhrwerk untergegangen war. Und wie wundersam es bald scheinen sollte, dass ich einmal ein glücklicheres Mädchen gewesen war, weniger einsam und weniger schüchtern.
    Aber wahrscheinlich nimmt jede vergangene Epoche einen Hauch von Mythos an.
    Und mit ein bisschen Überredung kann alles Vertraute im Kopf anormal werden. Hier ist ein Gedankenexperiment. Man überlege sich dieses brutale Zauberkunststück: Ein Mensch zieht einen zweiten Menschen in einer Höhle innerhalb seines Bauchs heran; sie lässt ihm ein zweites Herz und ein zweites Gehirn, ein zweites Paar Augen und Gliedmaße wachsen, einen vollständigen Satz Körperteile wie als Ersatzteillager, und dann, nach fast einem Jahr, stößt sie das zweite schreiende Wesen aus ihrem Bauch heraus und in die Welt hinein, lebendig.
    Sehr merkwürdig, nicht wahr?
    Damit will ich nur sagen, so seltsam uns die neuen Tage anfangs erschienen, empfanden wir die alten Tage doch sehr schnell als noch seltsamer.

12
    B estimmte Leute hatten seit Jahrzehnten Alarm geschlagen, seit die ersten Tropfen saurer Regen fielen, seit die Dicke der Ozonschicht sich kaum merklich verringerte, seit Tschernobyl und Three Mile Island und der Ölkrise der 1970er. Die Gletscher schmolzen, und die Regenwälder brannten. Krebsraten stiegen. Gewaltige Müllteppiche trieben seit Jahren über unsere Meere. Antidepressiva schwammen in den Flüssen – und unsere Blutbahnen waren ebenso vergiftet wie die Wasserwege. Dass man die Verlangsamung noch nicht erklären konnte, war unerheblich. Das Maß war voll. Sie bezogen Stellung.
    Das waren die Menschen, die sich weigerten, die Uhrenzeit einzuhalten.
    Sie waren Ökos und Pflanzenheilkundler und Anhänger ganzheitlicher Medizin. Sie waren Heiler und Hippies und Veganer, Wiccaner und Gurus und Esoteriker. Sie waren Freigeister und Anarchisten und radikale Umweltschützer. Oder sie waren Fundamentalisten oder Überlebenskünstler oder Aussteiger, die bereits ohne Anschluss ans öffentliche Versorgungsnetz in der Wildnis lebten. Sie lehnten Konzerne ab. Sie standen der Regierung kritisch gegenüber. Sie waren von Natur aus oder ihrer Überzeugung folgend Querdenker.
    Man wusste nicht immer, wer sie waren, zumindest am Anfang nicht. Manche behielten es für sich, solange sie konnten. Doch andere taten es kund.
    Am Ende einer Klavierstunde reichte Sylvia mir einen flachen weißen Umschlag.
    »Gib den bitte deiner Mutter«, sagte sie.
    Seth Moreno war auch bei uns im Zimmer und wartete auf seinen eigenen Unterricht. Er hatte bisher aus dem Fenster gestarrt, aber ich spürte, dass er in unsere Richtung sah, als Sylvia von dem Umschlag sprach.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    Ihre Finken waren beide tot. Der Vogelkäfig war leer. Die einzigen Geräusche kamen von den Windspielen, die auf Sylvias Veranda klirrten.
    »Ich kann das nicht«, sagte sie. »Es kommt mir vor wie eine Lüge.«
    In dem Brief erklärte Sylvia, warum sie die Uhrenzeit aufgab.
    »Wir suchen dir eine neue Lehrerin«, sagte meine Mutter, als sie den Brief gelesen hatte.
    »Aber ich will keine neue Lehrerin.«
    »Warum kann sie nicht weiter zu Sylvia gehen?«, fragte mein Vater, der neben uns die Post sortierte und das meiste davon direkt in den Müll warf.
    In dem Brief stand, Sylvia werde sich die größte Mühe geben, all ihren Uhrenzeitschülern entgegenzukommen.
    »Ich mochte ihren Lebensstil noch nie«, sagte meine Mutter.
    Sie goss Tomatensauce auf einen vorgebackenen Pizzateig. Es war einer der seltenen Uhrenabende, die wirklich dunkel waren. Ich konnte unser Spiegelbild in der Terrassentür erkennen.
    »Welchen Lebensstil?«, fragte mein Vater.
    Er trug noch seine Arbeitskleidung, ein weißes Hemd und eine gelockerte gelbe Krawatte, aber die Ärmel hatte er bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Ich roch die Krankenhausseife an seinen Händen.
    »Du weißt schon, was ich meine«, sagte meine Mutter. »Den ganzen New-Age-Quatsch.«
    »Was sagst du dazu, Julia?«, fragte mein Vater. Das Namensschild steckte noch an seiner Hemdtasche: Hinter dem Plastik klemmte ein veraltetes Foto, ein junger Mann mit dichtem Haar sah mich an, genau unter dem älteren Mann, der mich ebenfalls ansah. »Magst du Sylvia nicht?«
    »Ich will keine neue Lehrerin.«
    »Moment mal, Joel«, sagte meine Mutter. »Moment. Du warst doch derjenige, der meinte, diese ganze Uhrensache wäre das kleinste Übel und wir würden uns daran gewöhnen und bla, bla, bla.«
    »Es geht uns

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