Ein Jahr voller Wunder
nichts funktionierte bei meiner Mutter.
Ich weiß nicht, wie sie wach blieb, um ihren Unterricht zu halten oder die Proben für ihre Studenteninszenierung von Macbeth zu leiten.
Die Haut unter ihren Augen nahm ein schattiges Grau an. Und sie brach bei den winzigsten Anlässen in Tränen aus. »Ich weiß auch nicht, warum ich weine«, sagte sie dann, während sie ein zerbrochenes Glas aufkehrte oder sich einen gestoßenen Zeh rieb. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Eigentlich finde ich das gar nicht so schlimm.«
Einmal fand ich sie schluchzend im Badezimmer; sie kauerte über einem Fläschchen flüssigem Make-up, das auf den weißen Fliesen aufgeplatzt war und dessen Inhalt langsam über den Boden floss. Ihr Rücken krümmte und schüttelte sich beim Weinen. Es war die zwanzigste Stunde Tageslicht.
Unterdessen litten die Vögel weiter. Ich hatte mir nie Gedanken gemacht, wie viele unter uns lebten, bis sie vom Himmel stürzten. Einmal legte sich ein ganzer Starenschwarm gemeinsam zum Sterben auf die Straße bei unserer Schule. Der Verkehr wurde umgeleitet, während ein Spezialteam die Kadaver beseitigte. Die Fliegen schwirrten noch stundenlang herum.
Als wir eines dämmrigen Nachmittags aus dem Schulbus stiegen, fanden wir einen kleinen Spatz, halb tot, mitten auf dem Bürgersteig. Einige von uns hockten sich um ihn herum, während der Bus wegfuhr. Der Vogel atmete, bewegte sich aber ansonsten nicht.
Ich berührte ihn am Rücken. Ich streichelte ihn, so sanft ich konnte. Gleichzeitig spürte ich die Schatten der anderen Kinder neben mir, die mich beobachteten.
»Vielleicht braucht er Wasser«, sagte jemand hinter mir. Ich war überrascht, Seth Morenos Stimme zu hören. Normalerweise fuhr er sofort auf seinem Skateboard weg, wenn er aus dem Bus kam. »Hat jemand Wasser dabei?«, fragte er.
»Ja, ich.« Ich zog eine halb leere Flasche aus meiner Schultasche, und ich war froh, in diesem einen Moment das Eine liefern zu können, was Seth haben wollte.
Unsere Finger streiften sich, als ich ihm die Flasche gab. Er schien es nicht zu bemerken.
Trevor opferte seine Zahnspangendose, und Seth goss Wasser für den Vogel hinein.
Wir starrten den Spatz an. Wir warteten. Er atmete weiter, ein schnelles, unregelmäßiges Erschauern, aber er reagierte nicht auf das Wasser. Er reagierte überhaupt nicht. Hinter uns ging die Sonne unter, und das orangefarbene Licht schimmerte hell auf seinem Gefieder.
Ich sah Seth dabei zu, wie er dem Vogel zusah. Er war nur ein paar Schritte von mir entfernt, aber ich spürte eine gewaltige Kluft zwischen uns. Ich hatte keine Ahnung, was er dachte.
Da stürmte plötzlich Daryl in den Kreis, vielleicht gelang es dem Ritalin in seinen Adern nicht, seine Triebe zu unterdrücken. Er packte den kleinen Vogel mit den bloßen Händen und rannte damit weg.
»Daryl«, riefen wir alle. »Lass ihn in Ruhe!«
Seth lief ihm nach, raste auf den Rand des Canyons zu.
Das Nächste passierte schnell: Ehe Seth Daryl einholen konnte, riss dieser den Arm zurück wie ein Baseball-Werfer und schleuderte den Vogel hoch in den Himmel über der Schlucht.
Es war damals eine Zeit in meinem Leben, als jeden Tag Dinge geschahen, die noch einen Tag vorher unmöglich erschienen wären – und das hier war wieder so ein Ereignis. Ich erinnere mich noch an den langen Bogen des Vogels durch die Luft. Ich wartete darauf, dass seine Flügel sich ausbreiten und den Wind einfangen würden. Aber er fiel auf den Grund des Canyons wie ein Stein.
»Du Arschloch!«, brüllte Seth.
»Der wäre doch sowieso gestorben«, sagte Daryl.
Da zerrte Seth Daryl seinen Rucksack von den Schultern und warf ihn in dieselbe Richtung, in die Daryl zuvor den Vogel geworfen hatte. Alle beobachteten, wie der Rucksack hochflog und dann mit flatternden Riemen abstürzte, genau wie wir den Vogel beobachtet hatten.
Daryl stand einen Moment lang am Rand des Canyons und starrte nach unten.
Ich empfand Seth gegenüber riesengroße Dankbarkeit. Doch während ich noch überlegte, was ich sagen könnte, sprang er schon auf sein Skateboard und sauste davon, legte sich heftig in die Kurve, die ihn außer Sicht führte.
Bald zerstreuten uns auch wir anderen. Tag für Tag gewöhnten wir uns mehr an die kleinen Schrecknisse des Lebens. Man konnte nichts tun, als nach Hause zu gehen.
Ungefähr um diese Zeit erfuhren wir, dass der Krebs sich auf die Knochen von Seths Mutter ausbreitete, und Seth kam nicht mehr zur Schule. Ich hörte,
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