Ein Jahr voller Wunder
sein konnte, denn ich hätte es gewusst, wenn sie zurückgekommen wäre. Dieses Mädchen saß allein an einem Tisch in der Nähe der Laborräume, den Kopf auf einen dünnen Arm gestützt, und schmollte im fahlen Licht.
Als ich näher kam, sah ich, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Es war tatsächlich Hanna. Sie saß einfach ganz allein ohne Mittagessen an einem Cafeteriatisch.
»Du bist wieder da«, sagte ich.
»Hallo«, sagte sie beiläufig. Sie sah stylisch und hübsch aus in einer dunklen Jeans zu pinkfarbenem Top. Silberne Creolen hingen in ihren Ohren. Die Haare hatte sie zu einem lockeren Zopf geflochten. »Wir mussten wegen der Arbeit meines Vaters zurückkommen.«
Einen Moment lang schwiegen wir. Ich wartete darauf, dass sie mehr sagte. Es kam aber nichts. Hinter uns ertönte das aufgedrehte Kreischen eines Mädchens in der Essensschlange.
»Ich bin so froh, dass du wieder hier bist«, sagte ich schließlich. Ich stellte meinen Rucksack auf den Boden und setzte mich an den Tisch. »Ich hab die Schule schon langsam gehasst.«
»In Utah mussten wir nicht zur Schule«, sagte sie. Ihre blauen Augen beobachteten etwas hinter mir. »Alle haben einfach nur so gewartet, auf, du weißt schon, das Ende. Aber mein Vater hatte irgendwann keine Lust mehr zu warten.«
Wir waren seit Jahren befreundet, aber jetzt erblühte eine neue Schüchternheit zwischen uns. Ich kam mir vor, als wäre sie eine Cousine zweiten Grades und wir beide auf einem Familientreffen gestrandet, zwar auf eine lose Art miteinander verbunden, aber ohne zu wissen, was wir zueinander sagen sollten.
Um uns herum brandete Kindergeschrei auf und ab wie unsichtbare Gezeiten. Hanna starrte auf den Tisch. Sie zupfte an einem Fetzen abblätternder Farbe.
Und dann knickte ich ein: »Warum hast du mir nicht erzählt, dass ihr zurück seid?«
»Wir sind erst gestern gekommen.« Sie biss sich auf die dünne Spitze ihres Daumennagels. »Oder vielleicht vorgestern.«
Ein paar Sterne hielten sich immer noch am Horizont, doch der Tag wurde von Minute zu Minute heller. Ich musste blinzeln, um Hannas Augen zu sehen.
»Warum warst du heute Morgen nicht an der Bushaltestelle?«, fragte ich.
»Ich habe bei Tracey übernachtet.«
»Wer ist Tracey?«
»Tracey Blair.«
Sie deutete auf ein weiteres mormonisches Mädchen, an das ich mich dunkel aus dem Unterricht erinnerte, das ich aber nicht kannte. Dieses Mädchen lief nun auf uns zu, die Gestalt im Dämmerlicht verschwommen. Sie brachte zwei in Plastikfolie gewickelte Burritos und zwei Flaschen Wasser mit. Als sie näher kam, wurde klar, dass sie dasselbe Outfit wie Hanna trug, dasselbe pinkfarbene Top und dieselben Silberohrringe, denselben geflochtenen Zopf auf dem Rücken.
Plötzlich war ich angespannt.
»Ihr seid Zwillinge«, sagte ich.
»Dabei war das noch nicht mal abgesprochen«, sagte Hanna. »Witzig, oder?«
»Hallo«, sagte Tracey. Sie hatte riesige braune Augen, die nie zu blinzeln schienen. Ich schloss aus ihrem kontrollierten Gang und den Schwielen an den Händen, dass sie irgendeine Art von Turnerin war.
»Tracey war auch eine Zeitlang in Utah«, sagte Hanna.
»Hallo«, sagte ich.
Tracey spuckte ihren Kaugummi aus und setzte sich. Sie schob einen Burrito über den Tisch zu Hanna hinüber.
»Siehst du?« Hanna zeigte auf die Gruppe von Schülern auf der anderen Seite des Hofs. »Verstehst du jetzt, was ich meine?«
»Total«, sagte Tracey. Sie legte den Kopf übertrieben zustimmend zurück. »Total.«
»Was denn?«, fragte ich.
»Nichts«, sagte Hanna.
Wir saßen eine Weile dort, während die Sonne in den Himmel kletterte. Hanna sprach ein bisschen über Utah. Ihr Leben dort war nicht annähernd so öde gewesen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie erzählte eine komplizierte Geschichte von einem mormonischen Jungen, der neben ihrer Tante wohnte. Eines Nachts hatte dieser Junge das Fliegengitter an Hannas Fenster aufgeklappt und war in ihr Zimmer geklettert. Sie hatten sich geküsst, während ihre Schwestern schliefen.
»Wow«, sagte ich. Etwas anderes fiel mir nicht ein.
»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte Tracey. »Warum ist niemand aufgewacht?«
»Ja, ich weiß.« Hannas Wangen waren plötzlich rot. Sie lächelte, versuchte aber, nicht zu lächeln. »Und wir waren im oberen Stockbett.«
Endlich fragte Hanna, wie es mir ging.
Es gab natürlich viel zu berichten. Nichts lief gut. Aber an jenem Tag fühlte sich Hanna für mich nicht wie Hanna an, und Tracey ließ
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