Ein Jahr voller Wunder
grauen Hosenanzug. Sie hatte ihren Namen an die Tafel geschrieben: Miss Mosely. Eine Vertretung. »Eine Zeitlang«, sagte sie. »Wahrscheinlich bis zum Ende des Jahres.«
So geschah es damals manchmal – Leute verschwanden einfach.
Manche von Mr Jensens Sachen blieben noch das restliche Jahr bei uns im Klassenzimmer: seine silberne Thermoskanne, ein schlammbespritztes Paar Wanderschuhe, eine zusammengeknüllte blaue Windjacke im Regal. Einige unserer selbstgebastelten Sonnenuhren standen bis Juni auf der Fensterbank und zeigten andauernd fantastische Zeiten an. Ein Schmetterlingskokon blieb sauber verkapselt im Terrarium, da sein Bewohner nie hervorkam, und wurde Wochen später von Miss Moselys Skalpell von der Decke geschabt und zusammen mit den Scherben eines zerbrochenen Becherglases in den Abfall geworfen.
Den Grund für Mr Jensens Abschied erfuhren wir nie. Aber es verbreitete sich ein Gerücht, er sei von der Uhr abgegangen. Und im Gegensatz zu den früheren Behauptungen, Mr Jensen verbringe seine Nächte in einem Schlafsack unter dem Schreibtisch, ahnte ich, dass dieses neue Gerücht stimmte.
Wir sahen Mr Jensen nie wieder, aber Sylvia traf ich noch gelegentlich auf unserer Straße.
Sie hatte die meisten ihrer Schüler verloren, und ich machte mir Sorgen um sie. Aber aus der Ferne wirkte sie immer noch ganz fröhlich, sie winkte mir oft aus ihrer Einfahrt zu, wenn sie Stofftaschen vom Bioladen aus dem Auto holte oder zum Joggen ging, die roten Haare in der Brise hinter sich herwehend.
Doch ich wusste, dass ihr Leben zu dieser Zeit kompliziert gewesen sein musste. Immerhin richtete sich fast alles nach der Uhr. Es waren nicht nur die Schulen, sondern auch die Ärzte und die Apotheken und die Autowerkstätten, die Supermärkte und die Fitnessstudios, die Restaurants und die Kinos und die Einkaufszentren. Zwangsläufig mussten Sylvia und die anderen Echtzeiter bestimmte Aspekte ihres Lebens auf unseres eingestellt haben – oder sie verzichteten einfach auf gewisse Dinge.
Und es muss mit jeder Woche schwieriger geworden sein, da die Erde weiterhin langsamer wurde und die Tage sich weiterhin verlängerten.
13
I n den ersten Wochen nach Uhrenzeit schnellte der Absatz verschreibungspflichtiger Schlaftabletten in die Höhe. Die Hersteller von Jalousien konnten mit der Nachfrage nicht Schritt halten. Schlafmasken waren auf Monate hinaus nicht lieferbar. Es gab einen Ansturm auf Baldrian und andere pflanzliche Schlafmittel. Manchen Supermärkten ging der Kamillentee aus.
Auch der Verkauf von Alkohol und Zigaretten steigerte sich. Und es gibt Hinweise darauf, dass der Drogenhandel durch die Uhrenzeit ebenfalls florierte. Städtische Polizeidienststellen berichteten von starkem Anstieg des Grammpreises aller Substanzen, mit denen sich Menschen betäuben konnten.
In manchen Landesteilen gingen die Leute dazu über, in den hellsten der weißen Nächte in Kellern zu schlafen, aber die meisten kalifornischen Häuser waren ohne Wurzeln gebaut, wodurch wir über der Erde im Licht festsaßen.
Einige Uhrennächte fielen natürlich immer noch mit der Dunkelheit zusammen, aber eine vollständige Überschneidung war selten. Wann immer tatsächlich eine lichtlose Nacht vorkam, schliefen wir, so viel wir konnten. Doch es reichte nie aus. Wir waren wie Wanderer in einer Wüste, beschenkt mit einem kostbaren Wolkenbruch, aber nicht in der Lage, den Regen aufzufangen.
Meine Mutter hatte noch nie gut geschlafen. Die Schlaflosigkeit lag ihr im Blut. Nach Uhrenzeit konnte sie sich nur hinlegen, wenn es richtig dunkel war. Ich hörte sie oft spät in hellen Nächten in der Küche, das Pfeifen des Teekessels, die gedämpfte Musik des leise gestellten Fernsehers. Manchmal schrubbte sie die ganze Nacht die Badezimmer, und der Geruch von Kiefern und Bleiche sickerte unter meiner Zimmertür durch. Auch ich lag an manchen dieser Abende wach. Ein dünnes Lichtquadrat leuchtete um die Ränder der Steppdecken herum, die wir vor meine Zimmerfenster genagelt hatten. Man merkte immer, wenn draußen Tageslicht herrschte. Man wusste es einfach.
Mein Vater hingegen schlief gut. Er kaufte meiner Mutter alle möglichen Geräte. Ein spezieller Apparat, halb Höhensonne, halb Wecker, sollte den Effekt des Sonnenuntergangs durch das langsame Abdunkeln der Glühbirne nachahmen. Ein brandneuer Geräuschgenerator auf ihrem Nachttisch erzeugte den entspannenden Klang von Meeresbrandung und Wasserfällen, von in Baumkronen rauschendem Wind.
Aber
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