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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Hautfetzen lösten sich unter ihren Händen. Ich konnte das Gestöber im Lampenschein sehen. »Er kommt in einer Stunde aus der Arbeit.«
    Ich hoffte, sie hätte Recht, aber ich wusste, dass in der Nacht etwas umgeschlagen war, eine endgültige Veränderung, die schließlich zum Packen zweier Koffer und dem Beladen von Sylvias Kofferraum geführt hatte. Mein Vater und Sylvia konnten mittlerweile in Nevada sein oder die halbe kalifornische Küste hinauf. Aber ich sagte meiner Mutter nichts. Ich wartete einfach darauf, dass die Wahrheit auftauchte.
    Meine Mutter beugte sich zu mir vor und begutachtete meine Wangen. Von nahem sah sie älter aus, die Falten um ihre Augen herum tiefer, ihr ganzes Gesicht wie die getrockneten Blütenblätter, die Seth und ich in jenem Frühling gesammelt hatten.
    Sie drehte mich um, hob die Rückseite meines T-Shirts hoch. Ich trug den einfachen weißen BH, den ich heimlich bei meinem zweiten, erfolgreicheren Ausflug ins Geschäft gekauft hatte. Ich schloss die Augen und wartete auf einen Kommentar über den BH. Doch sie erwähnte ihn nicht. Stattdessen hörte ich nur ihr entsetztes Keuchen beim Anblick meiner Haut:
    »Mein Gott. Hattest du kein T-Shirt an?«
    Doch die Sonne hatte einen beunruhigenden neuen Trick entwickelt – sie hatte uns einfach durch die Kleidung verbrannt.
    Am selben Morgen erschien ein Umzugswagen vor Sylvias Haus. Durch meine Vorhänge sah ich Kiste auf Kiste in den Armen von zwei Möbelpackern durch den Garten wippen. Sie trugen Stehlampen, dicke Teppiche, zwei Körbe Wolle, meterweise Makramee. Möbel folgten: der rustikale Esstisch, das braune Samtsofa, zwei Polstersessel, ein Bettgestell, der leere Vogelkäfig. Das Beladen des LKW zog sich den gesamten Vormittag hin, aber Sylvia tauchte nicht auf. Ihr Auto war bereits weg. Ein Ölfleck trocknete in der Einfahrt.
    Nach einer Weile fuhr der Möbelwagen ab.
    Es wurde zwölf Uhr, und von meinem Vater keine Spur. Meine Mutter versuchte es auf seinem Handy. Er hob nicht ab.
    »Seine Schicht müsste doch jetzt vorbei sein«, sagte sie.
    Ich sagte nichts, aber das Wissen braute sich zusammen wie ein Gewitter – ich konnte die Zukunft sehen: Mein Vater käme nicht zurück. Und diese Tatsache schien auf andere zu deuten: Liebe verschleißt, und Menschen versagen, Zeit vergeht, Epochen enden.
    Gegen halb eins an jenem Tag flackerten die Lampen. Einige Minuten später gingen sie ganz aus.
    »Mist«, sagte meine Mutter. »Nicht schon wieder.«
    Vor jedem Fenster in unserem Haus hing ein schwarzer Vorhang, aber ein wenig Sonnenlicht sickerte trotzdem durch, und daher war es nicht völlig dunkel in unserer Küche, wo wir beide saßen und uns Sorgen machten, wie Frauen einer früheren Zeit. Meine Mutter zündete in der Düsternis Kerzen an.
    Ich rieb mir das Gesicht mit den Handflächen. Kleine Fetzen sonnenverbrannter Haut rieselten auf den Boden.
    »Lass das«, sagte meine Mutter. »Du machst es nur noch schlimmer.«
    Nicht lange, nachdem der Strom ausgefallen war, fingen die Katzen an zu heulen. Diesen Laut hatte ich noch nie bei ihnen gehört. Chloe stöhnte in die leere Luft. Ein Fellkamm ragte senkrecht von ihrer Wirbelsäule auf. Tony tigerte mit kreisenden Ohren in der Küche auf und ab. Er stieß ein leises Knurren aus. Als ich die Hand nach ihm ausstreckte, fauchte er.
    Bald begannen die Nachbarshunde zu bellen. Sie jaulten und jaulten, ihre Stimmen schwollen an wie eine Flut. Eine Dogge raste mit peitschendem Schwanz unsere Straße hinunter. In den nahe gelegenen ländlichen Gegenden gingen die Rinder durch; Pferde durchbrachen Zäune.
    Wir Menschen spürten überhaupt nichts. Der Himmel sah blau und schlicht aus.
    Als wir das Radio einschalteten, strömte Rauschen aus dem Lautsprecher. Auf keiner Frequenz trieb eine Stimme. Erst später würden wir erkennen, was im Nachhinein so offensichtlich erscheint: Es war der erste der solaren Superstürme, ausgelöst von der Verkümmerung des Magnetfelds.
    Wieder rief meine Mutter meinen Vater an. Nichts.
    Chloes Geheul wurde klagend, ein unablässiger, bebender Ton. Meine Mutter sperrte sie ins Gästezimmer und machte wegen des Lärms alle Fenster zu.
    Sie wählte noch einmal die Nummer meines Vaters. Dieses Mal sprang sofort die Mailbox an.
    »Wo ist er?«, fragte sie.
    Ich glaube, ihr war klar, dass er sich nicht bloß verspäten würde. Etwas hatte sich verändert, und das wusste sie.
    »Vielleicht solltest du lieber Batterie sparen«, sagte ich.
    Sie sah aus, als

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