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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Sonne.«
    »Mach ich. Versprochen.«
    Doch in dieser Nacht ignorierten wir die Warnungen.
    Seth und ich verbrachten den Abend allein am Pool und sahen zu, wie die Sonne über die Hügel kletterte – Wochen waren vergangen, seit ich die Sonne direkt gesehen hatte. Die alten Sonnenaufgänge hatten nie ein solches Hochgefühl hervorgerufen, aber diese neuen, selteneren – und jetzt verbotenen – waren wie eine Gnade, die uns gewährt wurde, und lösten etwas Chemisches aus: eine Tageslichteuphorie. Seths Vater kam gegen neun.
    »Julia sollte jetzt wohl besser nach Hause gehen«, sagte er, als er nach oben ins Bett ging.
    »Sie geht gleich«, sagte Seth.
    Ich nickte. Seths Vater rieb sich im Türrahmen den Bart. Er wirkte erschöpft.
    »Dann gute Nacht.« Er verschwand in sein Schlafzimmer.
    Aber ich ging nicht.
    Stattdessen legten wir uns draußen auf Gartenliegen, Seth und ich, warteten im Dämmerlicht, warteten, warteten, warteten darauf, dass die Sonne unsere Haut berührte. Und als es schließlich so weit war, ließen wir uns bis kurz vor der Ohnmacht aufheizen und taumelten dann benommen in den Schatten.
    Später erfuhr ich, dass die Strahlung für Kinder gefährlicher war als für Erwachsene. Unsere Körper waren kleiner, unfertig. Bei uns hatten die Zellschäden noch mehr Zeit, sich zu Krebs zu entwickeln. Unsere Gehirne waren noch im Wachstum. Ganze Regionen waren noch nicht voll ausgebildet, vor allen Dingen, wie wir später begriffen, der Frontalkortex, das Reich der Entscheidungsfindung und der Voraussicht, des Abwägens von Kosten und Konsequenzen.
    In anderen Häusern wurden die Kranken kränker. Neue Fälle des Schwerkraftsyndroms traten überall in der Gegend auf. Die Prognosen für die Zukunft fielen immer düsterer aus. Doch Seth und mir ging es gut. Uns ging es mehr als gut. Manchmal ist der Tod ein Beweis für das Leben. Manchmal weist der Verfall auf einen gewissen Elan hin. Wir waren jung und wir waren hungrig. Wir waren stark und wurden stärker, wir strotzten vor Gesundheit.
    Um Mitternacht verließen wir Seths Haus. Es war eine strahlende Nacht. In meiner Erinnerung war sie heller als normalerweise, aber das kann nicht stimmen – die Strahlung war für das menschliche Auge unsichtbar.
    Fünfhundert Kilometer weiter nördlich brannte Yosemite. Tote Bäume brennen gut. Der Rauch war nach Süden zu uns getrieben und hatte sich zu einem weißlichen Schleier gelichtet, der an unserem Himmel einen ungewohnten Sonnenschein erzeugte: immer noch gleißend, aber diffus.
    Die Straßen waren still. Nichts bewegte sich. Alle Fenster in allen Häusern waren gegen die Sonne verdunkelt, und wir waren die Einzigen, die um diese späte Stunde unterwegs waren. In jener Nacht gaben wir uns nicht mit Bürgersteigen ab – wir liefen mitten auf der Straße. Es war, als wäre die Zeit der Autos vorbei.
    »Wir können jetzt machen, was wir wollen«, sagte Seth. Er kniete sich auf die Straße und legte sich dann flach auf den Rücken, das Gesicht der Mitternachtssonne zugewandt. Ich legte mich neben ihn, meine Haare umrahmten meinen Kopf, der Asphalt war heiß unter meiner Haut.
    »Mach die Augen zu«, flüsterte er, und ich tat es.
    Viele Minuten lagen wir auf der Straße, blind und verletzlich. Es lag eine Romantik in dem beißenden Geruch des Teers, ein angenehmer Rausch der Gefahr. Schließlich schreckte uns ein Geräusch auf. Meine Lider schnellten hoch – es war nur eine Katze, die über den Bürgersteig rannte.
    Wir gingen an der staubigen und verlassenen Bushaltestelle vorbei und am Einkaufszentrum, dessen Geschäfte für die Nacht vergittert waren. Wir spazierten über den Supermarktparkplatz, den stillsten Parkplatz der Erde – es stand kein einziges Auto darauf –, und stellten uns vor, wir wären Besucher in dieser merkwürdigen Welt: Wozu dieser riesige freie Platz, diese Reihen von schraffierten Linien?
    Dann rannten wir den Hügel hinunter zu meiner Straße, unsere Schatten lang im frühen Licht.
    Bald erreichten wir Sylvias Haus. Mein Vater war die ganze Nacht in der Arbeit, aber meine Mutter war zu Hause, sie schlief – oder schlief nicht, genau gegenüber. Ich hatte Angst, erwischt zu werden, deshalb kauerten wir uns tief hinter ein geparktes Auto.
    Von nahem konnte ich noch das Graffiti unter der Farbe auf Sylvias Garagentor lesen, die immer noch brüllenden schlampigen Buchstaben: Verpiss dich. Ich überlegte, wie das Haus nun innen aussah und ob sie das Klavier hatte abholen lassen oder ob es

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