Ein Jahr voller Wunder
immer noch zerbrochen im Zimmer stand. Ich malte mir alles in Trümmern aus: die Fußböden eingesunken, Regale umgestürzt, das Makramee schon lange völlig ausgefranst. Das einzige Geräusch war das schwache Summen der Stromleitungen, die über dem Dach hingen.
Sylvias seitliches Gartentor, bemerkten wir, stand offen und gab den Blick auf ein dorniges Gestrüpp von toten Büschen in ihrem Garten frei.
»Komm, wir gehen da rein«, flüsterte Seth.
Ehe ich etwas einwenden konnte, flitzte er durch das Tor. Mir gefiel, wie er in diesem hellen Licht aussah, als er am Mauerputz vorbeirannte und dann blinzelnd den Kopf wandte und mir bedeutete, ihm zu folgen, was ich natürlich tat. Wir lehnten uns an die Seite von Sylvias Haus und lachten, so leise wir konnten, mit bebenden Schultern, ohne Luft zu bekommen. Wir waren Kinder, und es war Sommer. Wir taten Verbotenes und waren halb verliebt.
Verstohlen versuchten wir, durch ein Fenster zu spähen, doch die Vorhänge waren geschlossen. Von Sylvia war nichts zu sehen.
Die natürlichen Tage hatten sich auf sechzig Stunden ausgedehnt: fast zwei Tage Dunkelheit, gefolgt von zwei Tagen Licht. Falls Sylvia noch dort wohnte, konnte sie unmöglich jede Dunkelphase durchschlafen oder immer die gesamte Tageslichtspanne wach bleiben, aber wir wussten es nicht genau. Und das wollten wir – wir wollten alles wissen, was es zu wissen gab.
Wir hätten stundenlang in diesem Garten warten und sie nie entdecken können, doch plötzlich schwang die Seitentür auf, und sie stand im Garten, dünn wie eh und je in einem orangefarbenen Leinenkleid, ohne Schuhe. Wir versteckten uns hinter ein paar Mülltonnen und sahen sie auf ihre Einfahrt zugehen. Sie blickte die Straße auf und ab, dann noch einmal auf und ab. Sie schlich sich hinaus wie ein Dieb. In den Händen trug sie zwei zugeklebte Pappkartons. Sie stellte sie in ihrer Einfahrt ab und ging zurück ins Haus.
»Du hattest Recht«, flüsterte ich. »Wahrscheinlich war sie die ganze Zeit hier.«
Seth nickte. Er hielt sich einen Finger an die Lippen.
Sylvia kehrte mit zwei weiteren Kartons zurück und lief erneut zur Einfahrt. Sie verschwand außer Sicht, aber wir hörten das Rasseln von Schlüsseln, das Öffnen und Schließen ihres Kofferraums.
Seth hustete ein leises Husten. Er legte sich die Hand auf den Mund, um ein weiteres zu ersticken, aber es brach genau in dem Moment hervor, als Sylvia zurück in den Garten kam. Sie sah in unsere Richtung.
»Großer Gott«, sagte sie, die Hand auf der Brust. »Ihr habt mich erschreckt. Was macht ihr denn dahinten?«
Wir standen auf, als sie uns entdeckte, sagten aber nichts. Wir waren ertappt.
Sylvia schielte nach der Seitentür. Der Schwung ihrer Gesten, früher so anmutig, war einem festen Verschränken der Arme gewichen, dem nervösen Kauen auf der Unterlippe.
»Also?«, sagte sie.
Wir schwiegen.
»Ihr geht besser beide nach Hause«, sagte sie. »Sofort.«
Noch nie hatte ich sie so reden gehört. Als Lehrerin war sie unendlich geduldig und ruhig.
»Ihr solltet nicht hier sein.« Ihre Stimme wurde lauter.
Hinter ihr hörten wir die Seitentür quietschen. Sylvia schloss die Augen.
Und da war er: mein Vater, mit zwei braunen Koffern, einen auf jeder Seite.
Vielleicht hätte ich nicht überrascht sein sollen, meinen Vater so aus ihrem Haus kommen zu sehen, aber das war ich. Er blieb stehen, als er uns entdeckte. Ich hörte ihn kurz, scharf einatmen. Er stellte die Koffer ab.
»Was macht ihr hier?« Er blickte von mir zu Seth und wieder zurück. Eine Sonnenbrille hing an seinem T-Shirt.
Ich war zu entgeistert, um zu antworten.
»Ich dachte, du wärst bei Hanna«, sagte mein Vater. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber Seth fiel ihm ins Wort.
»Sie dachte, Sie wären in der Arbeit.«
Seth wirkte erregt, streitlustig.
»Sprich nicht so mit mir«, sagte mein Vater. »Ich rede mit Julia.«
Plötzlich fiel meinem Vater das offene Gartentor auf, und er machte ein besorgtes Gesicht: Wenn meine Mutter aufwachen und aus dem Fenster sehen würde, könnte sie uns leicht im Garten entdecken.
»Mist«, sagte er.
Das war das erste Mal, dass ich sie bemerkte, die unausweichliche Kluft zwischen Vater und Mann. Ein frustrierter Mann stand dort auf dem Weg. Ein Fremder hätte die Anzeichen von weitem erkannt, als mein Vater hastig das Tor schloss, die schroffen Bewegungen eines wutentbrannten Menschen.
»Wo willst du hin?«, fragte ich.
»Nirgendwo«, sagte mein Vater. Aber die Koffer
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