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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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leuchteten wie handfeste Beweise gegen ihn.
    »Sag mir die Wahrheit«, forderte ich.
    Sylvia entfernte sich allmählich aus der Szene. Fast unmerklich glitt sie Richtung Seitentür.
    »Ich möchte, dass du sofort nach Hause gehst«, sagte mein Vater zu mir. Er deutete auf unser gerade eben über das Gartentor sichtbare Haus, und es sah so traurig und schön aus, dort auf der anderen Straßenseite, der schlichte weiße Putz strahlte beinahe in der Sonne: unser Heim.
    »Nein«, erwiderte ich.
    Sylvia war jetzt wieder drinnen. Leise fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.
    »Sofort«, sagte mein Vater.
    Aber ich rührte mich nicht. Vielleicht lag es daran, dass Seth neben mir stand, oder vielleicht auch am Sonnenschein – man sagt ja, das Tageslicht mache uns impulsiver als die Dunkelheit.
    »Ich gehe nicht nach Hause«, sagte ich.
    Seth griff nach meiner Hand.
    »Er kann dich nicht zwingen«, sagte Seth. »Du könntest auf der Stelle deiner Mutter davon erzählen.«
    Wut blitzte in der Miene meines Vaters auf – Wut und Ungläubigkeit.
    »Deine Mutter und ich haben schon darüber gesprochen.«
    »Das glaube ich dir nicht.« Ich fing an, wütende Tränen zu weinen. Ich spürte Seths Hand auf meinem Rücken.
    »Wenn du nicht nach Hause willst, dann geh wenigstens zurück zu Seth.« Er bettelte jetzt. So etwas hatte ich bei ihm noch nie erlebt. »Bitte. Es ist gefährlich, so spät draußen herumzulaufen, und du solltest nicht in der Sonne sein.«
    Nach einiger Diskussion willigten wir ein, aber wir ließen uns nicht von ihm fahren. Er folgte uns im Auto, rollte im langsamen Tempo unserer Schritte hinter uns her. Den ganzen Weg über hielt Seth meine Hand. Beim Gehen hatte ich das Gefühl, einen Blick auf eine Szene der Welt einer Älteren zu erhaschen, auf die merkwürdigen Dramen, die sich nur mitten in der Nacht abspielten.
    Als wir Seths Einfahrt erreichten, rief mein Vater meinen Namen. »Julia«, sagte er. »Ich werde deiner Mutter nicht erzählen, dass das mit Hanna gelogen war.« Er machte eine Pause. Der Motorlüfter begann zu surren. »In Ordnung?«
    »Du bist derjenige, der lügt«, sagte ich.
    »Julia«, wiederholte er, aber ich antwortete nicht. Ich wusste nicht, wann ich meinen Vater das nächste Mal sehen würde.
    Seth und ich liefen Hand in Hand über die Erde, wo früher der Rasen gewachsen war. Wir stiegen die Stufen hoch und schlichen ins Haus, um seinen Vater nicht zu wecken.
    Drinnen saßen wir eine Weile auf den Wohnzimmersofas. Das Licht war durch die Vorhänge gedämpft. Es war spät, fast zwei.
    »Du solltest es deiner Mutter erzählen«, sagte Seth. Er gähnte und streckte sich auf dem Teppich aus.
    Ich legte mich auf der Couch zurück und starrte an die Decke. Einige Minuten vergingen. Irgendwo tropfte ein Wasserhahn. Der Kühlschrank brummte. Draußen brannte die Sonne auf das Land.
    »Sie wird es sowieso rauskriegen«, sagte ich.
    Als ich mich zu Seth umdrehte, stellte ich fest, dass er schlief. Er lag zusammengerollt in T-Shirt und Shorts auf dem Fußboden. Eine Zeit lang lauschte ich dem tröstlichen Geräusch dieses neben mir atmenden Jungen. Ich betrachtete das sanfte Flattern seiner Augenlider, als er träumte. Es reichte nicht aus, einfach nur in seiner Nähe zu sein. Ich wünschte mir, sehen zu können, was er gerade träumte. Selbst dorthin hätte ich ihn begleitet.

31
    E rst, als wir am nächsten Morgen aufwachten, bemerkten wir die Verbrennungen. Sonnenbrand: der schlimmste unseres Lebens.
    Wir waren fiebrig und durstig, unser gesamter Körper leuchtend rot. Es tat weh, die Knie zu beugen. Es tat weh, den Kopf zu drehen. Seth rannte ins Bad und übergab sich. Ich weiß noch, wie er hinterher aussah, er hustete immer noch, als er sich aufs Sofa legte. In seinen Augen entdeckte ich erste Tränen und noch etwas anderes: Angst.
    Meine Mutter war entsetzt, als ich nach Hause kam. Es schälten sich bereits weiße Hautstücke von meinen Wangen.
    »Um Himmels willen«, sagte sie. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht in die Sonne gehen.«
    An jenem Tag wurde sie lebendig, als wäre mein Sonnenbrand ihr Heilmittel. Sie strich mir sehr lange Aloe aufs Gesicht. Die Berührung ihrer Finger – das therapeutische Brennen – gab mir das Gefühl, ein kleineres Mädchen zu sein.
    »War das deine Idee?«, fragte sie. »Oder Hannas? Und wo zum Teufel waren ihre Eltern?«
    Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen.
    »Dein Vater muss sich das ansehen, sobald er nach Hause kommt.« Winzige

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