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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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befrachtete. Endlich entschied er sich für die Distanz, mit der Begründung, dass das Herz das nicht betrauert, was das Auge nicht sieht.
    Alle diese Strategien waren gescheitert. Aber jetzt war durch eine kleine blaue Pille und durch seine mit Frances gemachte Erfahrung der erste Einwand gegenstandslos geworden. Der zweite Einwand spielte auch keine Rolle mehr, weil alles, was sie zusammen durchgemacht hatten, sie eher stärker machen würde, als ihren intimen Beziehungen zu schaden. Und jetzt war außerdem die Distanz nicht mehr da, und die Welt war nicht untergegangen.
    In seinem ganzen beruflichen Leben war es ihm nicht gelungen, offen mit jemand anderem über die Gefühle zu sprechen, die er empfand, wenn er mit den entsetzlichen Dingen konfrontiert wurde, die ein Mensch einem anderen antun konnte. Und doch hatte er am Abend zuvor ohne Zögern Carol seine qualvollen Gedanken anvertraut. Schon als er sie aussprach, hörte er eine warnende Stimme, die ihm sagte, er gebe viel zu viel preis. Aber er beachtete die Stimme nicht, und Carols Reaktion war Mitgefühl gewesen statt Abscheu. Nach den Schrecken der Naziakten hatte er befürchtet, dass ihm eine Reihe schlafloser Nächte bevorstand, und wagte kaum, die Augen zuzutun, weil ihm vor dem bangte, was Träume in ihm anrichten konnten. Aber Carol hatte wie ein Balsam gewirkt und ihn von der schrecklichen Macht seiner Phantasie befreit.
    Zum ersten Mal seit Jahren sah er über die Lösung des Falls, der ihn zur Zeit so intensiv beschäftigte, hinaus und konnte sich auf etwas in der Zukunft freuen. Es war eine Aussicht, die ihn hoffnungsfroh machte. Aber davor gab es noch viel Arbeit. Tony setzte sich auf. Etwas, das er nicht recht fassen konnte, ging ihm durch den Kopf. Es war etwas, das er in Bremen gehört hatte, etwas, das ihm damals nicht wichtig vorgekommen war, jetzt aber von Bedeutung sein konnte. »Wo bist du, Geronimo?«, sagte er leise. »Planst du schon den nächsten Mord? Wo soll der passieren? Wohin wird das Wasser dich als Nächstes bringen?
    Wasser ist dein Element, deshalb ertränkst du sie. Und irgendwie spielt Wasser auch eine Rolle bei dem, was dir angetan wurde. Vielleicht hat derjenige auch darunter gelitten, der dich zu seinem Opfer machte. Vielleicht war dein Vater oder Großvater den Qualen der Wasserbehandlung in Hohenstein ausgesetzt. Ist das der symbolische Zusammenhang, auf dem die Überlegenheit gegenüber deinen Opfern beruht? Die Möglichkeit, zu zeigen, dass deine Macht stärker ist als ihre?« Dieser Gedanke bestätigte Tony, dass sie einen Menschen suchten, der in irgendeiner Verbindung mit dem europäischen Wasserstraßennetz stand. Wasser war der Schlüssel, das war ihm klar.
    Und so trat, weil das Gehirn ja auf noch weitgehend unerforschte Weise funktioniert, plötzlich der gesuchte Gedanke in den Vordergrund. »Der Fluss«, rief er, sprang aus dem Bett, nahm das zerknitterte Hemd vom Vortag und fuhr in die Ärmel. Als er den leichten Duft von Carols Haar roch, lächelte er.
    Sein Laptop stand offen auf dem Schreibpult. Er schaltete ihn an und begann, eine E-Mail für Carol, Petra und Marijke zu schreiben.
    Guten Morgen, Ladys,
    Einsichten des Tages: Die Tatsache, dass er eine so ungewöhnliche Art des Mordens wählt, muss für ihn von Bedeutung sein. Ich glaube, sie muss eine wichtige Rolle bei den Kindheitserfahrungen gespielt haben, die seine Psyche formten. Ich weiß jetzt, dass ähnliche Methoden bei den Torturen der Nazi-Psychiater angewendet wurden, auf jeden Fall in Hohenstein. Dass er Hohenstein als Decknamen gewählt hat, verstärkt diesen Zusammenhang. Wenn er auf einem Schiff arbeitet, wie ich vermute, dann schwingt da viel Bedeutungsvolles mit. Er ist ein Mensch des Wassers, Wasser ist seine Welt, und er sagt sich, wenn er es zum Töten verwendet, ist seine Macht stärker als ihre. Ich glaube also wirklich, wir sollten die Lkw-Fahrer vergessen und uns auf die Schiffer konzentrieren.
    Als ich in Bremen war, sagte mir der Beamte, der mich herumführte, dass der Rhein für den Frachtverkehr wegen Hochwasser gesperrt sei. Wenn unser Mann auf einem Schiff ist, dann heißt das doch bestimmt, dass er nicht hat weiterfahren können? Er muss noch da sein, wo er war, als er Dr. Calvet tötete. Deshalb muss er entweder in Köln selbst oder in der Nähe und leicht zu erreichen sein. Mir ist klar, dass das ein großes Gebiet ist, aber wenn ihr anfangen könntet, die in Frage kommenden Schiffe herauszusieben, die jeweils in der

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