Ein kalter Strom
ihr, als stecke sie in einem Sumpf von Papierkram und E-Mails fest. Allein die Menge des eintreffenden Materials war so gewaltig, dass sie kaum Schritt halten konnte und schon gar nicht genug Zeit hatte, alles zu sichten und wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen. Dazu kam, dass sie Tonys Vorschläge in die Ermittlungen einfließen lassen musste, als ob sie von ihr selbst stammten. Den ganzen Morgen hatte sie dem Rest des Teams immer neue Anweisungen gegeben, bis ihr der Überblick verloren ging, was sie bereits angeordnet hatte und was noch zu tun war. Und jeden Moment konnte jetzt Maartens reinkommen und verlangen, dass sie ihn aufs Laufende brachte.
Sie stand voll Selbstmitleid an die Wand gelehnt, als eine der Bürokräfte zögernd aus dem Gebäude trat. Er schaute sich um, und als er sie sah, ging er lächelnd auf sie zu. »Sie sind Brigadier van Hasselt, oder?«
Marijke nickte. »Stimmt.«
»Ich bin Daan Claessens? Ich kümmere mich um Verwarnungen?« Er hatte die irritierende Angewohnheit, jede Feststellung wie eine Frage klingen zu lassen.
»Freut mich, Daan«, sagte sie müde.
»Also, heute früh war ich in der Kantine? Und wir saßen mit ein paar von Ihren Ermittlern zusammen, die über den Fall de Groot und die anderen Morde geredet haben? Sie erzählten, dass Sie gesagt hätten, sie sollten alle Aufnahmen aus den Überwachungskameras vom Mordtag ansehen? Und sie sollten versuchen, einen Golf mit deutscher Nummer zu finden?«
»Richtig. Es ist eine der Ermittlungsrichtungen, die wir verfolgen.«
»Da habe ich gedacht, vielleicht würde es sich lohnen, die Verwarnungen durchzusehen?« Er stand da und wartete darauf, dass sie ihn ermutigte.
»Ja?« Sie war zu erschöpft, um mehr als ein höfliches Interesse zu äußern.
»Ich bin also hingegangen und habe alles durchgesehen? Und ich habe das hier gefunden …« Schwungvoll zog er ein Blatt Papier aus dem Hefter, den er dabeihatte, und gab es ihr mit dem Stolz eines Hundes, der einen besabberten Stock abliefert.
Es war eine Verwarnung wegen überhöhter Geschwindigkeit, gemessen von einer der Radarkameras in den Außenbezirken der Stadt. Das Datum und die Zeit passten zu Pieter de Groots Ermordung. Das Foto zeigte einen schwarzen Golf mit deutschem Kennzeichen. Genau wie der, den Margarethe Schillings Lebensgefährte in der Einfahrt gesehen hatte. Marijkes Handflächen wurden feucht, als sie die Einzelheiten las. Das Auto war auf den Namen Wilhelm Albert Mann angemeldet. Sechsundzwanzig. Seine Adresse war die
Wilhelmina Rosen
bei einer Hamburger Reederei. »Unglaublich«, flüsterte sie. Es sah aus, als hätte Tony die ganze Zeit Recht gehabt.
»Hilft das?«, fragte Daan eifrig.
»Oh ja«, sagte sie und wunderte sich, dass sie noch so ruhig klingen konnte. »Ja, es hilft sehr. Danke, Daan. Oh, und können Sie das vorerst für sich behalten? Vertraulich und so weiter …«
Er nickte. »Kein Problem, Brigadier.« Er flitzte davon, wandte sich an der Tür um und winkte grüßend.
Jetzt war die Frage, was sie tun sollte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die deutsche Polizei sich damit schwer tun würde, dies als eine Spur von hoher Priorität zu sehen. Erstens schien es nichts weiter als eine Kombination aus Ahnung und Zufall zu sein. Es gab jede Menge unverdächtiger Gründe dafür, dass das Auto eines deutschen Schiffers in Leiden gewesen sein konnte. Man konnte nicht einmal beweisen, dass der Mann selbst am Steuer gesessen hatte. Aber wichtiger war, dass sie die Politik der Polizeikräfte nur zu gut kannte. Egal, wie dringend die Ermittler ihre Fälle aufklären wollten, die Chefs würden trotzdem abgeneigt sein, Hilfe von der niederländischen Polizei anzunehmen. Sie wollten schon, dass die Mordfälle aufgeklärt wurden, klar, aber sie sollten von ihren eigenen Leuten geknackt werden. Sie würden wohl einerseits froh sein, in einem solch schwierigen Fall eine Spur zu haben, aber sie glaubte nicht, dass sie sie mit der Dringlichkeit verfolgen würden, die sie für nötig hielt. Außerdem war dies von Anfang an ihr Fall gewesen. Wären sie und Petra nicht gewesen, dann wäre die deutsche Polizei noch lange nicht so weit, wie sie jetzt war. Wenn irgendjemand die Anerkennung verdiente, diese Morde aufgeklärt zu haben, dann waren sie es. Und sie war noch nicht bereit, loszulassen.
Jetzt brauchte sie einen ihrer inoffiziellen Verbündeten, der die
Wilhelmina Rosen
orten und Wilhelm Albert Mann unter die Lupe nehmen konnte. Wenn Tony damit
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