Ein kalter Strom
hineinfallen. Sie standen so nah aneinander geschmiegt, dass jeder des anderen Blut pochen hörte. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und sog ihren süßen Duft ein. Zum ersten Mal seit seiner Fahrt zum Schloss Hohenstein war sein Kopf von den Schreckensbildern befreit, die es ausgelöst hatte.
Aber die Atempause dauerte nicht lange. Carol ließ ihre Finger durch seine Haare gleiten und sagte leise: »Es tut mir Leid. Ich denke nur an mich. Wie war dein Tag?«
Er erstarrte und wich vorsichtig zurück. »Bestimmt willst du diese Dinge gar nicht hören«, sagte er, ging zum Tisch hinüber und nahm eine Flasche Scotch, die dort stand. Er sah sie mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an, und Carol schüttelte den Kopf. Er goss sich einen kräftigen Drink ein und ließ sich auf den Stuhl beim Laptop fallen. Während er an dem Whisky nippte, schüttelte er den Kopf. »Glaub mir, du willst es bestimmt nicht hören.«
Carol saß am Ende der Couch, und zwischen ihren Knien waren nur ein paar Zentimeter Platz. »Ich bin ja nicht gerade unbeleckt in Bezug auf Gruselgeschichten«, erinnerte sie ihn. »Du weißt doch, wie dieses Zeug an einem nagt. Also komm, wir teilen uns die Last.«
Er starrte in sein Glas. »Kinder. Es waren einfach nur Kinder. Ich weiß ja bis in alle Einzelheiten, was Kindern angetan wird.« Er runzelte die Stirn. »Aber immer nur einzelnen. Ein kranker Kerl, der sich Kinder als Opfer aussucht. Das ist zu verkraften, weil es aus dem Rahmen fällt. Die Täter sind nicht wie wir – damit beruhigt man sich.« Er nahm noch einen Schluck Whisky.
»Aber, Carol, das Schreckliche an dieser Sache, die mir das Gefühl gibt, ich hätte ätzendes Gift geschluckt, einfach nur, weil ich davon weiß, das Schreckliche ist, dass es ein gemeinsames Handeln so vieler war. Dutzende, wahrscheinlich Hunderte von Leuten haben daran mitgewirkt, was mit diesen Kindern gemacht wurde. Ihre Eltern haben sich hinter einem Gefühl der Machtlosigkeit versteckt und ließen sich von diesen Unmenschen ihre Kinder wegnehmen. Und warum? Weil sie körperbehindert waren. Oder weil sie geistig unterentwickelt waren. Oder weil sie einfach schwierige Bengel waren, die sich nicht an die Regeln hielten.« Er fuhr sich durch die Haare, und auf seinem Gesicht spiegelte sich seine quälende Verwirrung. Carol legte eine Hand auf sein Knie, und er legte seine eigene darüber.
»Und dann die Ärzte und Schwestern. Keine unwissenden Bauern, sondern gebildete Leute. Menschen wie du und ich. Menschen, die diesen Beruf wahrscheinlich ergriffen, weil sie den Wunsch hatten, Kranke zu heilen. Aber als von höchster Stelle ein Erlass kam, hörten sie plötzlich auf, Heiler zu sein, und wurden zu Folterern und Mördern. Ich frage mich, wie bekommt man das in seinen Kopf? Ich habe nie ein Problem gehabt, Selbsttäuschung zu verstehen, wenn es um einen KZ -Wärter ging. Wenn man sich verwundbar fühlt, ist es für die meisten von uns kein so großer Schritt, irgendwelche Außenseiter wie Juden oder Zigeuner oder Kommunisten zu dämonisieren. Aber das waren
deutsche
Kinder. Die meisten Leute, die dort Leben zerstörten, waren wahrscheinlich selbst Eltern. Wie konnten sie das, was sie beruflich taten, so von ihrem eigenen Leben zu Hause trennen? Es muss doch wenigstens einige von ihnen psychisch ruiniert haben.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe ein gutes Einfühlungsvermögen. Ich kann den Schmerz von Menschen nachfühlen, die nur funktionieren, wenn sie ihren eigenen Schmerz auf andere verlagern. Aber ich kann beim besten Willen kein bisschen Mitleid empfinden mit jemandem, der mit solchen Taten zu tun hatte wie die, über die ich heute gelesen habe.«
»Es tut mir sehr Leid«, sagte Carol. »Ich hätte dich nicht mit hineinziehen sollen.«
Er zwang sich zu einem müden Lächeln. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Aber wenn ich Recht habe und unser Mörder ein Opfer zweiten Grades dessen ist, was in diesen so genannten Heimen geschah, dann muss ich sagen, er trägt nicht allein die Schuld an seinem Handeln. Die Menschen, die die wirkliche Verantwortung für diese Morde tragen, sind für unsere Gerechtigkeit unerreichbar.«
Auf der Straße unten traute Radovan Matic kaum seinen Augen. Er hatte einen langweiligen Abend vor Tadeusz Radeckis Haus verbracht und sich ausgerechnet, dass er bestimmt bis zum frühen Morgen würde warten müssen. Kein ganzer Mann würde eine solche Frau aus seiner Wohnung gehen lassen, ohne es ihr zu besorgen.
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