Ein kalter Strom
und dirigierte Carol ins Wohnzimmer. »Ich komme mir so blöd vor wegen dieser Sache, aber ich habe einen Stoß Hefte der vierten Klasse vergessen, die ich gestern Abend korrigiert habe. Ich war so in Eile heute früh, dass ich sie einfach habe liegen lassen, und ich muss ihnen morgen ihre Aufsätze zurückgeben.«
Ja, ganz bestimmt
, dachte Carol und beobachtete mit einem spöttischen Blick, wie Frances einen Stoß Schulhefte nahm, der hinter dem anderen Ende der Couch versteckt war.
»Ich wollte nur schnell hineinhuschen und sie holen. Aber wenn ihr gerade für eine Tasse Kaffee unterbrecht, kann ich euch ja Gesellschaft leisten.« Frances drehte sich um und fixierte Carol mit einem scharfen Blick. »Außer, wenn ich störe?«
»Wir waren sowieso an dem Punkt angelangt, wo wir eine Pause brauchten«, sagte Carol steif. Sie wusste, dass sie etwas in der Art hätte sagen sollen, dass sie erfreut sei, Frances kennen zu lernen. Aber wenn sie auch das Zeug zu einer Agentin haben mochte, so log sie doch in einer solchen Situation im wirklichen Leben nur ungern.
»Tony?«, rief Frances. »Ich bleibe auf eine Tasse Kaffee, wenn du nichts dagegen hast.«
»In Ordnung«, kam die Antwort aus der Küche. Carol war beruhigt, dass er auch nicht begeisterter klang, als sie es war.
»Sie sind überhaupt nicht, wie ich mir Sie vorgestellt hatte«, sagte Frances mit kühl abweisender Stimme.
Carol kam sich vor, als sei sie wieder vierzehn und dem scharfen Sarkasmus ihres Mathelehrers ausgeliefert. »Die meisten Leute haben eigentlich kaum eine Vorstellung, wie Polizisten in Wirklichkeit aussehen. Ich meine, wir sind ja alle zur Schule gegangen, wir wissen, was wir von Lehrern zu erwarten haben. Aber das Image von Polizeibeamten beziehen die Leute aus dem Fernsehen.«
»Ich selbst sehe nicht viel fern«, fuhr Frances fort. »Aber nach dem Wenigen, was Tony mir von Ihnen erzählte, hatte ich eher eine Person erwartet, die … reifer ist, das wäre wohl das richtige Wort. Aber wenn man Sie ansieht … Sie sehen ja eher wie eine von meinen Schülerinnen aus der zwölften Klasse aus als wie eine Kripobeamtin in höherer Position.«
Carol blieb weiteres Geplänkel durch Tonys Rückkehr erspart. Sie saßen zwanzig Minuten herum und redeten über Belangloses, dann nahm Frances ihre Hefte und zog ab. Nachdem Tony sie zur Tür begleitet hatte, kam er ins Zimmer zurück und schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir Leid«, sagte er.
»Man kann es ihr nicht verübeln«, sagte Carol. »Aber wahrscheinlich ist es ganz gut, dass du nicht gerade dabei warst, mir die Aussicht vom Zimmer im oberen Stock zu zeigen.«
Es sollte ein Scherz sein. Aber Tony sah auf den Teppich hinunter und steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans. »Sollen wir weitermachen?«, sagte er.
Sie arbeiteten den Rest des Abends an verschiedenen Rollenspielen und machten nicht einmal eine Pause zum Essen. Es war anstrengend, und Carol musste sich voll konzentrieren. Als das Taxi kam, um sie zum Hotel zurückzubringen, war sie erschöpft von der Übung, ihre Phantasie einzusetzen und zugleich ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie verabschiedeten sich an der Tür mit einer verlegenen Umarmung, seine Lippen streiften leicht die weiche Haut unterhalb ihres Ohrs. Sie wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen, hatte sich aber fest im Griff. Als sie im Hotel ankam, spürte sie nur eine hohle Leere im Magen.
Als sie jetzt aufs Meer hinausstarrte, konnte sie sich selbst eingestehen, dass sie wütend war. Ihr Zorn richtete sich nicht gegen Tony. Sie räumte ein, dass er nie ein ihr gegebenes Versprechen gebrochen hatte. Ihre ganze Wut wandte sich gegen sie selbst. Sie hatte niemanden als sich selbst, auf den sie die Schuld an den quälenden Gefühlen schieben konnte.
Sie wusste, dass es zwei Möglichkeiten gab. Sie konnte die Wut in sich weiterfressen lassen wie ein Gift, das ihr ganzes Inneres verseuchen würde. Oder sie konnte endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen und die daraus erwachsende Energie nutzen, um sich von ihr in die Zukunft hineintragen zu lassen. Sie wusste, welche Wahl sie treffen wollte. Die Frage war nur, ob sie es schaffen würde.
Fallbericht
Name: Pieter de Groot
Sitzung Nummer: 1
Bemerkungen: Auffällig ist bei diesem Patienten der Mangel an Gemütsbewegungen. Er ist zu keiner inneren Teilnahme fähig und zeigt eine beunruhigende Passivität. Nichtsdestoweniger schätzt er seine eigenen Fähigkeiten hoch ein.
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