Ein kalter Strom
Sich den Toten genau zu betrachten war ihre Aufgabe, Maartens vermied das immer. Sie war sich nie sicher, ob er empfindlich war oder ob er nur dachte, er werde an anderer Stelle nötiger gebraucht. Er war gut darin, den Leuten Aufgaben zuzuteilen, die zu ihnen passten, und sie war beim Anblick eines Toten nie zurückgeschreckt. Sie hatte den Verdacht, es könnte etwas damit zu tun haben, dass sie auf einem Bauernhof aufgewachsen war. Seit frühester Kindheit war sie den Anblick toter Tiere gewöhnt. Marijke machte es gar nichts aus, wenn die Lämmer laut schrien.
Ihr war wichtig, was diese Leiche ihr über das Opfer und den Mörder verraten konnte. Sie war ehrgeizig und hatte nicht vor, ihre Karriere als Brigadier in Holland Mitte zu beschließen. Jeder Fall war möglicherweise eine weitere Stufe auf ihrem Weg zu einer der Eliteeinheiten in Amsterdam oder Den Haag, und Marijke war entschlossen, zu glänzen, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekam.
Mit kühlem, analytischem Blick starrte sie auf Pieter de Groots Leiche hinunter, eine Fingerspitze wanderte zu dem gewölbten Abdomen. Die Haut fühlte sich kalt an. Er war also schon eine gewisse Zeit tot. Auf ihn hinuntersehend, runzelte sie die Stirn. Auf der glatten Oberfläche des Schreibtischs war um den Kopf ein runder Fleck, als sei hier etwas verschüttet worden. Marijke merkte sich, es der Spurensicherung gegenüber zu erwähnen. Alles Ungewöhnliche musste untersucht werden.
Trotz ihrer Absicht, jeden Quadratzentimeter der Leiche und ihrer Umgebung systematisch zu erkunden, wurde ihr Blick unaufhaltsam zu dem verkrusteten Blut um die Wunde hingezogen. Das offen zutage liegende Gewebe sah aus wie Fleisch, das man über Nacht ausgepackt auf einem Küchentisch hatte liegen lassen. Als Marijke bewusst wurde, was sie da sah, drehte sich ihr ganz unerwartet der Magen um. Aus der Entfernung hatte sie die gleiche Vermutung gehabt wie Maartens. Aber de Groot war nicht kastriert worden. Seine Geschlechtsteile waren noch am Körper, wenn auch auf groteske Weise mit Blut beschmiert. Sie schnappte nach Luft.
Wer immer den Psychologen getötet hatte, hatte nicht seine Geschlechtsorgane entfernt, sondern der Mörder hatte wie beim Skalpieren sein Schamhaar abgelöst.
Carol lehnte sich auf das Fensterbrett, und der Dampf ihres Kaffees bildete eine runde, beschlagene Stelle auf der Scheibe. Das schlechte Wetter war über Nacht herangezogen, und der Firth of Forth sah aus wie verkrumpelte graue Seide mit ein paar Fleckchen Weiß, wo sich weit vor der Küste hier und da eine Welle brach. Sie sehnte sich nach ihrer vertrauten Londoner Skyline.
Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Was immer ihr die Reise in beruflicher Hinsicht gebracht hatte, wurde durch die schmerzlichen Gefühle wieder aufgehoben, die Tonys Gegenwart in ihr geweckt hatte. Sie musste mit Bitterkeit zugeben, sich immer noch an einen letzten Hoffnungsfaden geklammert zu haben, dass nach einem angemessenen zeitlichen und räumlichen Abstand doch endlich etwas aus ihrer Beziehung werden würde. Aber diese Hoffnung war wie eine Sandburg in der Sonne zerbröselt, als er ihr gestand, er sei weiter vorangekommen, genauso wie sie es immer erhofft hatte. Nur war nicht sie die Gefährtin, die er sich für diesen Weg erwählt hatte.
Als sie das Pub verließen, zwang sie sich, ihm lächelnd und freundschaftlich zu gratulieren, und hoffte, dass sie ihn nicht hatte merken lassen, wie tief ihre Enttäuschung war. Dann hatte sie sich abgewandt, und der scharfe Nordostwind lieferte ihr einen Vorwand für ihre Tränen. Sie war hinter ihm den Hügel hochgefahren, von dem malerischen Hafen weg zu dem kleinen Hotel, wo er ein Zimmer für sie bestellt hatte. Sie hatte sich trotzig zehn Minuten Zeit für Make-up und Frisur genommen, und statt der Jeans zog sie einen engen Rock an, der mehr sehen ließ, als je irgendjemand bei der Met zu Gesicht bekommen hatte. Eine Schlacht hatte sie wohl verloren, aber das hieß nicht, dass sie jetzt klein und hässlich beigeben musste.
Soll er doch sehen, was er verpasst
, dachte sie und warf damit sich selbst genauso wie ihm den Fehdehandschuh hin.
Auf der Fahrt zu seinem Häuschen hatten sie kaum über etwas Wichtiges gesprochen, sondern nur über das Leben in einer Kleinstadt geplaudert. Das Haus selbst war so, wie Carol es sich vorgestellt hatte. Was immer diese Frau für Tony bedeuten mochte, hatte sie doch seiner Umgebung nicht ihren Stempel aufdrücken können. Carol
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