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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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unsere Eindrücke gründen auf solchen Dingen. Körpersprache, Kleidung, Handlungen und Reaktionen. Sprache und Schweigen. Wenn wir jemanden treffen, beginnt unser Gehirn das, was es wahrnimmt, mit dem zu vergleichen, was es in den Datenbanken der Erinnerung gespeichert hat. Hauptsächlich nutzen wir das, was wir dort aufbewahren, als Kontrolle, um neue, uns noch unbekannte Menschen zu beurteilen. Aber wir können es auch als eine Sammlung von Beispielen nutzen, auf die sich unsere neue Vorgehensweise stützen kann.«
    »Du meinst, ich weiß schon alles, was ich wissen muss?«, sagte Carol skeptisch.
    »Wenn du es noch nicht weißt, wird selbst jemand, der so klug ist wie du, es bis nächste Woche nicht mehr lernen. Als Erstes möchte ich, dass du an jemanden denkst, den du bereits kennst und der sich in diesem Szenario relativ wohl fühlen würde.« Er tippte mit seinem Kuli auf die Unterlagen. »Nicht übermäßig selbstbewusst, sondern einfach jemand, der auf vernünftige Weise damit klarkäme.«
    Carol runzelte die Stirn, während sie die Kriminellen in ihrer Erinnerung durchging, mit denen sie im Lauf der Jahre persönlich zu tun gehabt hatte. Sie hatte nie im Rauschgiftdezernat gearbeitet, war jedoch sehr oft auf Dealer und Kuriere gestoßen, als sie im Nordseehafen von Seaford die Kripo geleitet hatte. Aber niemand schien zu passen. Die Dealer waren zu großspurig und von ihrem eigenen Produkt verkorkst, und die Kuriere hatten keine Energie. Dann fiel ihr Janine ein. »Ich glaube, ich habe jemanden«, sagte sie. »Janine Jerrold.«
    »Erzähl mir von ihr.«
    »Sie war früher eins von den Mädchen unten am Hafen. Das Außergewöhnliche an ihr war, dass sie nie einen Zuhälter hatte. Sie arbeitete nur für sich selbst, in einem Zimmer über dem Pub, das ihre Tante betrieb. Als ich sie kennen lernte, war sie schon zu etwas aufgestiegen, was ein bisschen lukrativer und körperlich weniger gefährlich war. Sie hatte eine Gruppe von Mädchen, die systematisch Ladendiebstahl begingen. Gelegentlich erwischten wir eine von ihnen, aber Janine konnten wir nie fassen. Jeder wusste, dass sie dahinter steckte. Aber keines ihrer Mädchen verpfiff sie, weil sie sich immer um sie kümmerte. Sie erschien vor Gericht, um ihnen die Geldstrafen zu bezahlen, immer bar auf den Tisch. Und wenn sie einsitzen mussten, sorgte sie dafür, dass sich jemand um ihre Kinder kümmerte. Sie war schlau und hatte echt Courage.«
    Tony lächelte. »Okay, jetzt haben wir Janine im Visier. Das ist der einfache Teil. Jetzt musst du Janine für dich aufbauen. Du musst alles gut überdenken, was du sie je hast tun sehen und sagen hören, und musst die Merkmale zusammenstellen, die Kombination von Eigenschaften der Frau, die sie jetzt ist.«
    »In vier Tagen?«
    »Natürlich wird es nur ein ungefährer Entwurf, aber in der Zeit kannst du schon etwas zusammenkriegen. Dann kommt der wirklich schwierige Teil. Du musst aus Carol Jordans Haut herausschlüpfen und annehmen, du seist Janine Jerrold.«
    Carol sah besorgt aus. »Meinst du, das schaffe ich?«
    Er legte den Kopf schief und überlegte. »Oh, ich glaube schon, Carol. Ich glaube, du kannst praktisch alles, was du dir in den Kopf gesetzt hast.«
    Die folgende Stille war gespannt und energiegeladen, bis Tony aufsprang und sagte: »Noch Kaffee. Ich brauche Kaffee. Und wir müssen planen, was wir als Nächstes tun.«
    »Als Nächstes?«, sagte Carol und folgte ihm in den Flur.
    »Ja. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen sofort mit den Rollenspielen beginnen.«
    Bevor Carol antworten konnte, war das unverkennbare Geräusch eines Schlüssels im Schloss zu hören. Sie fuhren beide herum und standen mit vor Überraschung starren Gesichtern der Haustür gegenüber. Die Tür flog auf, und eine adrette Spätdreißigerin zeigte sich. Sie zog den Schlüssel heraus und grüßte beide mit einem warmen Lächeln, das ihre Augen aber nicht erreichte. »Hi, Sie sind wohl Carol«, sagte Frances, stieß die Tür hinter sich zu, stopfte die Schlüssel in ihre Tasche und streckte ihr die Hand hin. Sie musterte Carol von Kopf bis Fuß und reagierte mit einem leichten Heben der Augenbrauen auf den kurzen Rock.
    Carol schüttelte ihr automatisch die Hand.
    »Carol, das ist Frances«, sagte Tony tonlos.
    »Warum steht ihr denn bloß hier im Flur herum?«, fragte Frances.
    »Wir wollten noch Kaffee machen«, antwortete Tony und ging rückwärts durch die Küchentür.
    »Tut mir Leid, dass ich so reinplatze«, sagte Frances

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