Ein kalter Strom
würde er genug Zeit haben, sich gehen zu lassen, der Dunkelheit zu entkommen und sich im Licht zu sonnen. Während sie die Fracht löschten, würde er zu seinen Erinnerungen zurückkehren können. Und vielleicht konnte er auch planen, wie sich sein Erinnerungsschatz erweitern ließ.
Brigadier Marijke van Hasselt rümpfte die Nase. Nichts gegen Leichen zu haben war eine Sache. Aber bei einer Obduktion die verschiedensten Gerüche und grässlichen Anblicke zu ertragen war etwas, für das man doch mehr Kraft brauchte. Zu Anfang ging es noch. Nichts störte sie beim Wiegen und Messen, Abnehmen der Plastiktücher von Kopf und Händen, beim Auskratzen unter jedem einzelnen Fingernagel, kurz bei allem, was von Wim de Vries, dem Pathologen, genauestens als Ton- und Videoaufnahme festgehalten wurde. Aber sie wusste, was noch vor ihnen lag, und das war nichts für empfindliche Mägen.
Wenigstens war de Vries keiner von denen, die sich einen Spaß aus der Demütigung von Polizeibeamten machten, die bei der Obduktion dabei sein mussten. Nie hantierte er mit inneren Organen wie ein Metzger, der Innereien feilbietet. Stattdessen war er ruhig und effizient und brachte den Toten so viel Respekt entgegen, wie es die Entschlüsselung der Rätsel in ihren Körpern es ihm gestattete. Und wenn er etwas fand, was der anwesende Polizeibeamte erfahren musste, drückte er sich klar und deutlich aus. Über all dies war Marijke sehr erleichtert.
Behutsam fuhr er mit der äußerlichen Untersuchung fort. »Spuren von Schaum in den Nasenlöchern«, sagte er. »Passt zum Ertrinken. Jedoch keine im Mund, was mich überrascht«, fügte er hinzu, während er mit einer Lampe in de Groots Mund leuchtete. »Aber warten Sie …« Er sah genauer hin und nahm eine Lupe zu Hilfe. »Hinten im Rachen und an der Innenseite von Wangen und Lippen sind Quetschungen und Prellungen.«
»Was bedeutet das?«, fragte Marijke.
»Es ist zu früh, um genaue Aussagen zu machen, aber es sieht aus, als wäre ihm etwas mit Gewalt in den Mund gesteckt worden. Später werden wir mehr wissen.« Zügig machte er Abstriche von den verschiedenen Körperöffnungen und fing dann an, die äußeren Verletzungen zu untersuchen.
»Das Schamhaar ist sehr sauber entfernt worden«, sagte er. »Nur hier am Nabel sind ein paar vorsichtig ansetzende Schnitte.« Er zeigte mit seiner latexbedeckten Fingerspitze darauf. »Sehen Sie das? So etwas habe ich noch nie gesehen. Schamhaarskalpierung müsste man das nennen, schätze ich. Ihr Täter hat sich bemüht, die Genitalien selbst nicht zu beschädigen.«
»War er noch am Leben, als das geschah?«
De Vries zuckte mit den Schultern. »Das Abziehen der Haut geschah etwa bei Eintritt des Todes. Entweder war er gerade schon tot oder dabei zu sterben.« Er fuhr mit der Untersuchung der Leiche fort und hielt an der linken Kopfseite inne. »Mächtige Beule hier.« Er betastete die Schwellung. »Leichte Abschürfung. Verletzung durch einen stumpfen Gegenstand. Einige Zeit vor dem Tod wurde ihm ein Schlag auf den Kopf versetzt.« Er nickte dem Sektionsgehilfen zu. »Drehen wir ihn um.«
Marijke starrte auf die blassen Stellen auf de Groots Rücken. Der Nacken, das Kreuz, die Schenkel über dem Knieansatz waren von dem Blut, das, dem unerbittlichen Gesetz der Schwerkraft folgend, dorthin geflossen war, lila gefleckt wie ein Bluterguss. Wo die Haut gegen die Oberfläche des Tisches gepresst worden war – an den Schultern, dem Gesäß und den Waden –, war sie gespenstisch weiß geblieben. Es erinnerte Marijke an ein merkwürdiges abstraktes Gemälde. De Vries presste einen Daumen gegen die Schulter der Leiche. Als er ihn wegnahm, war keine Veränderung festzustellen. »Also«, sagte er, »Hypostase im zweiten Stadium. Er hat mindestens zehn oder zwölf Stunden tot in dieser Position gelegen. Und er ist nach Eintreten des Todes nicht bewegt worden.«
Jetzt kam der Teil, den Marijke hasste. Die Leiche wurde wieder auf den Rücken gelegt, und das Sezieren begann. Sie ließ ihre Augen zur Seite wandern. Für den unachtsamen Beobachter würde es aussehen, als verfolge sie aufmerksam, was de Vries tat, aber in Wirklichkeit starrte sie so auf das Instrumententablett, als hinge ihr Leben davon ab, sich wie bei einem perversen Gedächtnisspiel alle Instrumente einzuprägen. Das Seziermesser mit dem zweiteiligen Stahlgriff und den einen Zentimeter langen einsetzbaren Klingen diente für Einschnitte und das Entfernen von Organen. Das 12er-Skalpell
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