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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Das einzige Thema, über das zu sprechen er bereit scheint, ist seine eigene intellektuelle Überlegenheit. Sein Selbstbild ist maßlos übersteigert.
    Seine Leistungen, die man bestenfalls als mittelmäßig bezeichnen kann, rechtfertigen diese Haltung nicht. Ein Kreis von Kollegen, in den er eingebunden ist, unterstützt jedoch diese Sicht seiner Fähigkeiten, und aus unerfindlichen Gründen ist dort keinerlei Bereitschaft erkennbar, seine Selbsteinschätzung zu hinterfragen. Er sieht ihre mangelnde Bereitschaft zur Kritik als Beweis dafür an, dass sie seine Ansichten teilen und seinen Status in ihrer Gemeinschaft akzeptieren.
    Dem Patienten fehlt jede Einsicht in seine Verfassung.
     
    Therapeutische Maßnahmen: Behandlung zwecks Zustandsveränderung eingeleitet.

Kapitel 8
    D as schwer beladene Rheinschiff pflügte weiter in Richtung Rotterdam durch die Wogen, der glatten Bugwelle sah man im breiter werdenden Fluss nicht an, dass der Neder-Rijn unmerklich zum Lek wurde und dann die Fluten der Nieuwe Maas in sich aufnahm. Den größten Teil des Morgens hatte der Mann nichts von der vorübergleitenden Landschaft wahrgenommen. Sie waren durch kleine, blühende Städte mit einer Mischung aus großen Stadthäusern, flachen Industriebauten und Kirchtürmen gekommen, die in den niedrigen grauen Himmel ragten. Aber nichts davon hätte er beschreiben können, höchstens aus der Erinnerung an frühere Fahrten. Er hatte weder die grasbewachsenen Deiche gesehen, die lange Strecken des flachen Landes verbargen, noch die Straßen- und Bahnbrücken, die sich in anmutigen Bögen über den Fluss schwangen und seinen langen Lauf in Teilstücke zerschnitten.
    Die Bilder, die ihm vor Augen standen, waren ganz anderer Natur. Er sah, wie Pieter de Groot zu Boden gegangen war, als er ihn mit dem selbst gemachten Totschläger – aus fest in weiches Sämischleder eingenähten Schrotkugeln – auf den Hinterkopf geschlagen hatte. Es war für ihn unvorstellbar, sich jemals so verhalten zu können wie de Groot, nämlich einem Fremden so weit zu vertrauen, dass er ihm bereits fünf Minuten nach der ersten Begegnung den Rücken zuwandte. Jemand, der so leichtsinnig war, hatte das verdient, was er bekam.
    Weitere aufregende Bilder. Der panische Schrecken in den Augen des herzlosen Dreckskerls, als er zu sich kam und merkte, dass er nackt auf seinem eigenen Schreibtisch festgebunden war. Merkwürdigerweise hatte sich sein Entsetzen gelegt, als der Schiffer zu sprechen begann. »Du wirst hier sterben«, hatte er gesagt. »Du verdienst es. Du hast dich wie Gott persönlich aufgespielt. Und jetzt zeig ich dir mal, was passiert, wenn jemand bei dir den lieben Gott spielt. Du hast schon viel zu lange die Köpfe der Leute verkorkst, und jetzt ist es an der Zeit, dass einer dich abmurkst. Ich mach’s kurz, du wirst dir nämlich nicht wünschen, dass es langsam geht, glaub mir. Aber solltest du schreien, wenn ich dir den Knebel aus dem Mund nehme, tu ich dir so weh, dass du mich anbetteln wirst, sterben zu dürfen.« Seine Reaktion hatte ihn überrascht. Sein erstes Opfer hatte sich gewehrt und sich geweigert einzusehen, dass das sinnlos war. Er hielt es für eine natürliche Reaktion, aber es hatte ihn irritiert, weil es die Arbeit erschwerte. Trotzdem hatte er das respektiert. Genau so sollte ein Mann sich benehmen.
    Aber der Professor in Leiden war anders gewesen. Es war, als hätte er sofort erkannt, dass die Person, die auf ihn hinunterstarrte, nicht für Argumente zugänglich war, was immer er auch gegen sein Schicksal vorbringen mochte. Er hatte sich auf der Stelle geschlagen gegeben, seine Niederlage stand in seinen stumpfen Augen geschrieben.
    Vorsichtig nahm er den Knebel aus dem Mund des Mannes. Der Psychologe hatte nicht einmal versucht, um sein Leben zu betteln. In diesem Moment fühlte er sich seinem Opfer auf schreckliche Weise verwandt. Er wusste nicht, was der Mann erlebt hatte, was ihm diese Fähigkeit zur Resignation gab, aber sie erinnerte ihn an sein eigenes angelerntes Verhalten, und er hasste de Groot deshalb noch mehr. »Verdammt vernünftige Entscheidung«, sagte er schroff und wandte sich ab, um sein Unbehagen zu verbergen.
    An diesen Moment wollte er nicht denken.
    Noch mehr schöne Bilder. Die sich hebende Brust, das verkrampfte Zucken und Beben eines Körpers, der kämpfte, um im Diesseits zu verharren. Es gab ihm ein gutes Gefühl, seine neu gewonnenen Erinnerungen auf diese Weise noch einmal durchzuspielen. Er konnte

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