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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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mit seiner dünnen langen Klinge, mit dem feine Einschnitte in empfindliches Gewebe gemacht wurden. Die Scheren, Messer und Zangen für Dinge, an die sie lieber gar nicht denken mochte. Die Stryker-Säge mit der vibrierenden Klinge zum Zersägen von Knochen, wenn das umliegende Gewebe nicht zerstört werden durfte. Ein T-förmiger Meißel, der eine extra starke Hebelkraft hatte, um die Knochen des Schädels auseinander zu brechen.
    So also verpasste sie den Moment, in dem de Vries den Brustkorb öffnete und die blasse, aufgeblähte Lunge aus ihrer Höhle quoll. »Das habe ich mir gedacht«, sagte er, und Zufriedenheit klang bei aller Professionalität in seinem nüchternen Ton mit, als er wie eine schmeichelnd um die Beine streichende Katze versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.
    »Was ist das?« Sie löste widerstrebend den Blick von den chirurgischen Instrumenten.
    »Sehen Sie sich seine Lunge an.« Er drückte mit einem Finger auf das graue Gewebe, das zwischen den Rippen hervorquoll, und hinterließ eine deutliche Delle. »Er ist ertrunken.«
    »Ertrunken?«
    De Vries nickte. »Kein Zweifel.«
    »Aber Sie sagten doch, er sei in der Position gestorben, in der er gefunden wurde.«
    »Ja, das stimmt.«
    Marijke runzelte die Stirn. »Aber da war doch kein Wasser. Er war auf seinem Schreibtisch festgebunden. Es war ja nicht im Bad oder in der Küche. Wie konnte er ertrinken?«
    »Auf sehr unangenehme Art und Weise«, sagte de Vries mit unbewegter Stimme, den Blick auf seine arbeitenden Hände gerichtet. »Aus dem Zustand des Mundes und der Luftröhre lässt sich schließen, meine ich, dass eine Art Trichter oder ein Schlauch in seine Atemwege gesteckt und dann Wasser hineingeschüttet wurde. Sie sagten, er sei festgebunden gewesen, und ich kann die Spuren der Schnur selbst sehen. Er konnte sich kaum wehren.«
    Marijke schauderte. »Mein Gott, wie kaltblütig.«
    De Vries zuckte mit den Achseln. »Das ist Ihr Gebiet, nicht meins. Ich lese nur ab, was die Leiche uns sagt. Gott sei Dank muss ich mich nicht damit befassen, was in dem Kopf hinter der Tat vorging.«
    Aber ich schon
, dachte die Kripobeamtin.
Und das ist eine sehr üble Sache
. »Die Todesursache wäre also Ertrinken?«, fragte sie.
    »Sie wissen ja, dass es in diesem Stadium zu früh ist, es mit Sicherheit sagen zu können. Aber es sieht jedenfalls danach aus.« De Vries wandte sich wieder der Leiche zu, schob eine Hand in die Bauchöffnung und hob einen Klumpen innerer Organe heraus.
    Ertrunken
, dachte sie.
Auf so etwas kommt man nicht im Eifer des Gefechts. Wer immer das getan hat, hat es sehr sorgfältig geplant. Er kam ausgerüstet mit allem, was er brauchte
. Wenn dies ein Verbrechen aus Leidenschaft war, dann musste es in der Tat eine sehr merkwürdige Leidenschaft gewesen sein.
     
    Carol schloss die schwere Tür zu ihrer Wohnung, lehnte sich dagegen und schlüpfte aus den Schuhen. Sie legte ein Bein übers andere und bückte sich, um die endlich befreiten Zehen zu massieren. Den ganzen Tag hatte sie damit verbracht, auf den kleinen Straßen von Stoke Newington, Dalston und Hackney herumzustreifen und die Welt mit den Augen einer Kriminellen zu betrachten. Sie unterschied sich gar nicht so sehr von der Welt aus polizeilicher Sicht. Bei beiden suchte man ständig nach Fluchtwegen, möglichen Opfern oder Zielobjekten und eventuellen Sicherheitslücken. Aber sie war bisher immer auf der Seite der Jäger gewesen. Jetzt musste sie versuchen, die Bedürfnisse des gejagten Wilds vorauszusehen.
    Sie prägte sich die Gassen, unbebauten Grundstücke und Verstecke ein. Sie hatte Pubs mit Hintereingängen, Dönerlokale, deren Hintertür vielleicht für jemanden mit schneller Kombinationsgabe und spitzen Ellbogen als Zugang interessant war, sowie unangemeldete Taxiunternehmen ausfindig gemacht, deren Fahrer für eine schnelle Flucht in der Nähe großer Straßen irgendwo um die Ecke bereitstanden. Auch, welche Häuser mit leicht zugänglichen Gärten als Fluchtweg dienen konnten, hatte sie herausgefunden. Drei Tage hatte sie im Abgasdunst des Verkehrs, zwischen abgestandenen Kochgerüchen und den billigen Parfüms auf den Straßen zugebracht und sich unter die heterogene Menge derer gemischt, die sich auf der sozialen Leiter als Aufsteiger sahen, und derer, die mit dem Wissen lebten, dass es mit ihnen nur noch abwärts gehen konnte. Sie hatte bei Gesprächen Akzente aus allen fünf Kontinenten belauscht und herausgefunden, wer im Vorübergehen auffiel oder

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