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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Touristenattraktion gemacht werden sollen. Er fragte sich, ob irgendeiner der Reiseführer auf den Touristenbooten in der Schlucht jemals die jüngere Geschichte erwähnte, die Schloss Hohenstein so unauslöschlich gebrandmarkt hatte. Er glaubte es eigentlich nicht. Niemand wollte an diesen Abschnitt der Vergangenheit erinnert werden. Man wollte so tun, als sei es nie geschehen. Und deshalb hatte nie jemand dafür bezahlen müssen. Nun gut, er würde die verdammten Kerle zur Kasse bitten, das stand fest.
    Während er an dem Messing herumrieb, rief er sich die Unterhaltung mit Heinrich Holtz im Biergarten ins Gedächtnis. Eigentlich war es keine Unterhaltung, eher ein Monolog gewesen. »Wir gehörten zu denen, die angeblich ›Glück‹ hatten«, hatte er gesagt, während seine wässrigen Augen ständig von einer Seite zur anderen zuckten und sein Blick nie lange auf einem Fleck ruhte. »Wir haben es überlebt.«
    »Was überlebt?«, fragte der jüngere Mann.
    Holtz fuhr fort, als habe er die Frage nicht gehört. »Alle wissen Bescheid über die Konzentrationslager. Alle reden über die Gräuel, die man den Juden, den Zigeunern und den Homosexuellen angetan hat. Aber es gab noch andere Opfer, die vergessen wurden. Ich und Ihr Großvater, wir waren zwei dieser Vergessenen. Weil wir in einer so genannten Krankenanstalt waren, nicht in einem Lager.
    Wussten Sie, dass in Deutschland im Jahr 1939 300 000 Patienten in psychiatrischen Anstalten saßen, aber 1946 nur noch 40 000 davon lebten? Der Rest starb von der Hand der Psychiater und Psychologen. Und dabei sind all die Kinder und Babys noch nicht mitgezählt, die im Namen der Rassenhygiene umgebracht wurden. Es gab sogar eine so genannte Krankenanstalt, wo man die Verbrennung des zehntausendsten Geisteskranken mit einer besonderen Zeremonie feierte. Ärzte, Krankenschwestern, Aufseher und die Verwaltungsangestellten, alle machten mit. Jeder bekam eine Flasche Bier, um auf die Gelegenheit anzustoßen.
    Aber man musste nicht verrückt sein, um in ihre Klauen zu geraten. Wenn man taub oder blind, zurückgeblieben oder behindert war, musste man der Herrenrasse zuliebe vernichtet werden. Ein Stottern oder eine Hasenscharte reichten aus, dass man weggebracht wurde.« Er hielt inne und nippte behutsam an seinem Bier, und seine Schultern zogen sich höher hinauf, als man es für möglich gehalten hätte.
    »Ich und Ihr Großvater, wir hatten keine körperliche oder geistige Behinderung. Wir waren nicht verrückt. Wir waren einfach flegelhafte Jungs. Sie nannten uns asozial. Ich hatte immer Streiche im Sinn und tat nie, was meine Mutter von mir verlangte. Mein Vater war tot, und sie schaffte es nicht, mich zu disziplinieren. Also tat ich, was ich wollte. Ich stahl, warf Steine, machte mich über die Soldaten lustig, die im Stechschritt durch die Stadt marschierten.« Er schüttelte den Kopf. »Ich war erst acht und völlig ahnungslos.
    Jedenfalls kam eines Morgens der Arzt mit zwei Männern in weißen Kitteln und SS -Stiefeln zu uns nach Haus. Ich kämpfte wie ein Löwe, aber sie verprügelten mich einfach und warfen mich hinten in ein Fahrzeug, das früher ein Krankenwagen gewesen war. Jetzt war es eher ein Polizeitransporter. Sie banden mich an der Seitenwand fest, und wir fuhren los. Bis abends war ein ganzes Dutzend von uns im Wagen, völlig verängstigt saßen wir in unseren eigenen Exkrementen. Ihr Großvater war einer davon. Wir saßen nebeneinander, und so fing unsere Freundschaft an. Ich schätze, wir haben überlebt, weil wir es schafften, eine Art menschlichen Kontakt aufrechtzuerhalten, trotz all der Dinge, die passierten.« Holtz sah dem Schiffer endlich in die Augen. »Das ist das Schwierigste, sich daran zu erinnern, dass man ein Mensch ist.«
    »Wohin haben sie euch gebracht?«, fragte der Schiffer. Er wusste, dass dies wahrscheinlich die unwichtigste Frage war, die er stellen konnte, aber er spürte, dass Holtz’ Geschichte keineswegs angenehm sein würde, und alles, was ihn ablenken konnte, schien eine gute Idee.
    »Zum Schloss Hohenstein. Ich werde nie vergessen, wie ich es zum ersten Mal sah. Man brauchte es nur anzuschauen, und schon stieg die Angst in einem hoch und nahm einem die Luft. Ein riesiges Schloss wie aus einem Horrorfilm. Drinnen war es immer dunkel und kalt. Steinböden, winzige Fenster hoch oben und Wände, die immer feucht waren. Nachts lag man zitternd auf seinem Bett und fragte sich, ob man morgens noch am Leben sein werde. Aber man weinte

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