Ein kalter Strom
sich auch vorgestellt hatte, dies war es nicht gewesen. Jetzt hatte er endlich jemanden, dem er die Schuld dafür geben konnte.
Tony fuhr in die Einfahrt von Frances’ Doppelhaushälfte und hielt an. Alles am Haus war viereckig und ordentlich. Da es vor der Zeit gebaut wurde, als Bauunternehmer anfingen, allen möglichen Schnickschnack an den Mittelklasse-Eigenheimen anzubringen, war es ganz schlicht, und anders als einige ihrer Nachbarn war Frances standhaft geblieben und hatte alles vermieden, was die geraden Linien der Türen und Fenster, der Giebelwand und des Gartens unterbrochen hätte. Keine nachgemachten alten Butzenscheiben, keine aufwändige Haustür mit Paneelen und Zierleisten. Keine ausgefallenen Blumenbeete oder Brunnen im Garten, nur einfache, rechteckige Rabatten mit Rosen, die so weit heruntergeschnitten waren, wie es möglich war, ohne ihnen zu schaden. Zuerst hatte Tony die Ordnung als Kontrast zu den Unklarheiten und Wirren seines eigenen Lebens gefallen.
Aber jetzt musste er zugeben, dass er nicht ohne gute Gründe ein altes Häuschen gewählt hatte, das keine einzige völlig gerade Wand und einen kleinen Garten mit wuchernden Geranien und übergroßen Strauchveroniken hatte. Als er Frances besser kennen lernte, hatte er sich daran erinnert, dass Menschen, die ihre Umgebung einer so strengen Ordnung unterwerfen, dazu neigen, auch ihrem inneren Leben Einschränkungen und Grenzen zu setzen, aus lauter Angst, dass ihr ungebärdiges Innenleben hervorbrechen und ein unbeherrschbares Chaos verursachen könnte.
Und es gab Zeiten, wo er sich nach Chaos sehnte.
Heute Abend sollten sie drüben in Cupar mit ein paar Bekannten Bridge spielen. Tony wusste, dass Frances ein Abendessen machte, das ein paar Minuten nach seiner Ankunft serviert werden konnte, damit sie auf jeden Fall früh genug in Cupar ankommen würden. Er hätte gerne mit Carol gesprochen, um herauszufinden, wie ihre Agentenübung gelaufen war, aber er wusste, dass es später keine Gelegenheit dazu geben würde. Bevor er sein Büro verließ, hatte er schon versucht, sie anzurufen, aber sie war noch nicht zu Hause gewesen. Vielleicht war sie in den zehn Minuten, die er für die Fahrt nach St. Andrews gebraucht hatte, zurückgekommen.
Er gab ihre Nummer auf seinem Handy ein und wartete. Dreimal klingelte es, und er hatte Verbindung mit ihr. »Hi, Carol, hier ist Tony. Ich wollte nur wissen, wie …«
»Tony? Ich bin gerade durch die Tür gekommen. Moment.«
Er hörte das elektronische Piepsen, als sie den Anrufbeantworter abschaltete, dann wieder ihre Stimme. »Wie schön, dass du anrufst.«
»Sagen wir, aus beruflicher Neugier. Es interessiert mich, wie es gegangen ist.«
»Ich wollte dir später eine E-Mail schicken, aber so ist es noch besser.«
Sogar aus der Entfernung von einigen hundert Kilometern nahm er die freudige Erregung in ihrer Stimme wahr. »Du hörst dich an, als seist du wirklich aufgedreht. Wie war’s denn?«
Ihr leises Lachen war ansteckend. Er spürte, wie ein Lächeln auf sein Gesicht trat. »Ich nehme an, das hängt von der Perspektive ab.«
»Fang damit an, wie du es siehst.«
»Es lief hervorragend. Es gab hier und da einen Augenblick, wo ich ziemlich Bammel hatte, aber es ist nie außer Kontrolle geraten. All das gemeinsame Üben hat mich zuversichtlich gemacht, alles bewältigen zu können, was sie mir vorsetzen würden, und so war es auch.«
»Da bin ich froh«, sagte er. »Also, wer war dann nicht der Meinung, dass es hervorragend lief?«
»Oh Gott«, stöhnte sie. »Ich war ganz oben auf der Abschussliste des Rauschgiftdezernats heute Abend.«
»Warum? Was ist passiert?«
Als sie Tony das Fiasko beschrieb, musste sie dazwischen immer wieder lachen. »Ich weiß, ich sollte mich schämen, aber ich bin einfach zu zufrieden mit mir selbst.«
»Ich kann’s kaum glauben, dass sie dir so wenig zugetraut haben«, sagte Tony. »Es hätte ihnen klar sein sollen, dass du clever genug bist, eine Überwachung zu entdecken. Schließlich hast du doch oft genug selbst welche durchführen lassen. Von da ist es kein großer Schritt zu der Annahme, dass du eine Möglichkeit finden würdest, der Festnahme zu entgehen. Und womit haben sie dich noch konfrontiert?« Er lehnte sich auf dem Fahrersitz zurück und ließ Carol weiter berichten. Als ihr endlich der Stoff ausging, sagte er: »Hey, du solltest stolz sein. Ein Tag im Einsatz, und schon hast du nicht mehr wie die Jägerin gedacht, sondern wie das gejagte
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