Ein kalter Strom
nach Hause gehen können, bis der Auftrag ausgeführt ist.«
Carol runzelte die Stirn. »Ich werde nicht bei Europol arbeiten?«
»Noch nicht.« Er beugte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie. »Carol, wenn Ihnen dieser Auftrag gelingt, dann können Sie mehr oder weniger selbst bestimmen, wie es weitergeht.«
Ihr fiel auf, dass er sie beim Vornamen nannte. Ihrer Erfahrung nach wurden höhere Vorgesetzte außerhalb der eigenen Gruppe nur dann so vertraulich, wenn alles vollkommen schief zu laufen drohte und sie hofften, dass man sie davor bewahren würde. »Und wenn ich es nicht schaffe?«
Morgan schüttelte den Kopf. »Denken Sie besser gar nicht daran.«
Kapitel 13
A uf der
Wilhelmina Rosen
gab es immer genug Arbeit, so dass keine Hand ruhte. Der alte Mann hatte den Maßstab gesetzt, und er war entschlossen, ihm gerecht zu werden. Die Mannschaft hielt ihn bestimmt für einen Besessenen, aber das war ihm gleichgültig. Wozu war man schon Besitzer eines der schönsten Rheinschiffe, wenn man es nicht tipptopp wartete und in Ordnung hielt. Sonst konnte man ja gleich auf einer der modernen Stahlkisten herumschippern, die ungefähr so originell waren wie eine Cornflakes-Packung.
Heute Abend hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, den Messingteilen auf der Kommandobrücke ihre glänzende Patina zurückzugeben. Verständlicherweise war er mit seinen privaten Plänen beschäftigt, hatte aber trotzdem am Morgen bemerkt, dass sie stumpf zu werden begannen. Also hatte er sich vorgenommen, den Abend mit ein paar Lappen und einem Messingpoliermittel zu verbringen, denn er war entschlossen, jede etwa bei ihm aufkommende Nachlässigkeit im Keim zu ersticken, bevor sie zur Gewohnheit wurde.
Es war nicht zu vermeiden, dass seine Gedanken bei der monotonen Arbeit zu Angelegenheiten abschweiften, die ihm mehr am Herzen lagen. Morgen würden sie rheinabwärts wieder auf den Ort zufahren, wo alles angefangen hatte. Schloss Hohenstein, das ein Stück flussaufwärts von Bingen hoch oben auf einem Felsvorsprung stand. Mit seinen gotischen Fenstern, die auf die Strudel der Rheinenge hinuntersahen, und seinen grauen Steinmauern wirkte das Vermächtnis eines fast vergessenen mittelalterlichen Raubritters drohend wie eine Gewitterwolke. Jahrelang hatte die
Wilhelmina Rosen
diesen Flussabschnitt stromauf und -ab befahren, und sein Großvater hatte am Steuer gestanden und mit keinem einzigen Seitenblick verraten, dass dieses Schloss ihm etwas bedeutete.
Hätte es an einem weniger schwierigen Stück des Flusses gelegen, dann wäre sein geflissentliches Übersehen eines so außergewöhnlichen Bauwerks vielleicht aufgefallen und hätte auf eine besondere Bewandtnis hingewiesen. Aber beim Durchfahren der Rheinenge mussten die Schiffer sich mit allen Sinnen auf die Fahrrinne konzentrieren. Mit ihren scharfen Windungen, den felsigen Untiefen vor den Uferbänken, den unerwarteten Wirbeln und Strudeln und der starken Strömung war sie schon immer eine Herausforderung für das Geschick gewesen. Heutzutage war es leichter, weil man tiefe Rinnen ausgehoben hatte, um die eigenwillige Strömung zu zähmen. Aber es war trotzdem noch eine Strecke, von der ein Tourist auf einer einzigen Fahrt stärkere Eindrücke von der umgebenden Landschaft mit sich nahm als ein Rheinschiffer, der die Fahrt schon Hunderte Male hinter sich hatte. Und so hatte er nie bemerkt, dass sein Großvater sich hartnäckig weigerte, einen Blick auf Schloss Hohenstein zu werfen.
Seit er den Grund kannte, warum sein Großvater dem Anblick auswich, hatte das Schloss eine tiefe und fortdauernde Faszination für ihn gewonnen. Als sie eines Abends ein paar Kilometer flussaufwärts angelegt hatten, war er sogar hinaufgefahren. Er kam zu spät dort an, um noch eine Karte für eine Führung kaufen zu können, aber er stand draußen vor dem kunstvoll geschnitzten Türsturz des Haupteingangs, durch den sein Großvater vor sechzig Jahren gegangen war. Wie konnte jemand die düstere Fassade betrachten und nichts von den Schrecken spüren, die diese hohen, schmalen Fenster gesehen hatten? Er stellte sich vor, dass in den Steinmauern an diesem Ort der Furcht und des Grauens noch die Schreie und das Weinen Hunderter von Kindern nachklangen. Beim bloßen Anblick brach ihm der Schweiß aus, die Erinnerung an die eigenen Qualen spürte er genauso grausam und bitter wie an dem Tag, als sie ihm zugefügt wurden. Das Schloss hätte dem Erdboden gleich- und nicht zur
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