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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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was uns angetan wurde.
    Die Schuld ist zu groß, verstehen Sie? Es war schwer für Deutschland, zuzugeben, was sie mit den Juden gemacht hatten. Aber was uns zugefügt wurde, war noch schlimmer. Denn unsere guten deutschen Eltern ließen es geschehen. Sie erlaubten dem Staat – meistens ohne Gegenwehr –, dass er uns ihnen wegnahm. Sie akzeptierten einfach, was ihnen gesagt wurde: Wir müssten dem Gemeinwohl zuliebe beseitigt werden. Und später wollte niemand unsere Stimmen hören.
    Um ehrlich zu sein, ich habe mich selbst bemüht, vieles zu vergessen, was damals passiert ist. So bin ich damit fertig geworden. Aber tief im Inneren sind die Wunden noch da.«
    Ein langes Schweigen trat ein. Schließlich leerte der junge Schiffer sein Glas und sagte: »Warum erzählen Sie mir das?«
    »Weil ich weiß, dass Ihr Großvater es Ihnen nicht gesagt hat. Wir haben uns hin und wieder getroffen und etwas zusammen getrunken, und er hat zugegeben, dass er es Ihnen nie erzählt hat. Ich meinte, damit täte er Unrecht. Ich glaube, Sie verdienen zu wissen, was ihn zu dem Mann gemacht hat, der er war.« Holtz streckte seine Hand mit den knochigen Fingern aus und legte sie auf die Hand des anderen. »Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich nehme an, es war nicht leicht, von ihm großgezogen zu werden. Doch Sie müssen wissen, wenn er streng mit Ihnen war, hat er es zu Ihrem eigenen Schutz getan. Er wollte nicht riskieren, dass Sie so ein Junge wie er wurden, mit all den Folgen, die das mit sich bringen konnte.
    Männer wie ich und Ihr Großvater wissen vielleicht mit dem Verstand, dass die Nazis nicht zurückkommen, dass niemand unseren Kindern und Enkeln das antun wird, was man mit uns gemacht hat. Aber tief innen drin haben wir immer noch schreckliche Angst, dass es irgendwo solche Kerle geben könnte, die den Menschen, die wir lieben, das Gleiche antun würden. Diese Ärzte sind ja nicht aus dem Nirgendwo gekommen. Diese Scheusale gab es nicht nur in einer Generation. Sie haben nie den Preis gezahlt für das, was sie taten, wissen Sie? Sie haben weitergemacht, geachtet und anerkannt stiegen sie auf der Karriereleiter ihres so genannten Berufs nach oben und nutzten, was sie gelernt hatten, um die, die nach ihnen kamen, zu lehren. Es gibt immer noch Unmenschen da draußen, nur haben sie sich jetzt besser versteckt. Oder sie sind woanders hingegangen. Sie sollten deshalb wissen, dass er, was immer er mit Ihnen gemacht hat und was Ihnen vielleicht grausam und gefühllos erschien, es nur aus den besten Motiven getan hat. Er wollte Sie retten.«
    Dann hatte er seine Hand zurückgezogen. Der Jüngere konnte die Berührung der trockenen, alten Haut, die sich wie Papier anfühlte, nicht mehr auf seiner Hand ertragen. Sein Kopf tat weh, ein stumpfer Schmerz, der sich vom Schädelansatz her ausbreitete und wie Stahlfinger sein Gehirn umspannte. Er spürte, wie der vertraute dunkle Schmerz in ihm aufstieg und all seine Zufriedenheit aufsaugte, die er beim letzten Abschied von seinem Großvater empfunden hatte. Er wusste nicht, wie er mit dem, was ihm gerade erzählt worden war, umgehen sollte, und der körperliche Kontakt mit diesem entkräfteten alten Mann half ihm überhaupt nicht. »Ich muss gehen«, sagte er. »Meine Mannschaft wartet auf mich.«
    Holtz starrte auf den Tisch. »Ich verstehe«, sagte er.
    Auf der Rückfahrt in die Stadt schwiegen sie und schauten auf die Straße hinaus. Als sie die Außenbezirke erreichten, sagte Holtz: »Sie können mich hier absetzen. Ich kann den Bus nehmen. Ich will Ihnen keine Umstände machen.« Er griff in seine Tasche und zog einen Zettel heraus. »Ich habe meine Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben. Rufen Sie mich an, wenn Sie mehr darüber sprechen wollen.«
    Holtz stieg in der hereinbrechenden Dämmerung des Nachmittags aus und ging davon, ohne sich umzusehen. Sie wussten beide, dass sie sich nicht wiedersehen würden.
    Er rieb sich die Schläfen und versuchte, die trüben Gedanken durch die Freude zu vertreiben, die er gefühlt hatte, als er den alten Mann ins Wasser stieß. Aber es gelang ihm nicht. Er legte den Gang ein und fuhr mit dem klapprigen Ford zurück zum Hafen. Er hatte immer geahnt, dass es einen Grund für das geben musste, was ihm geschehen war. Die Brutalität, das Fernhalten von anderen Kindern, die Verweigerung von mehr als nur der grundlegendsten Erziehung und Ausbildung, weil einem Klugheit nur Probleme brachte, all das war irgendwoher gekommen. Aber was immer er

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