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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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nie, denn wenn man Theater machte, bekam man Spritzen. Und wenn man Spritzen bekam, starb man. Man lebte wie in einem Albtraum, aus dem man nicht erwachen kann.
    Die Regierung hatte das Schloss requiriert und es zu dem so genannten Institut für Entwicklungspsychologie gemacht. Sie wollten uns, die unangepassten Kinder, nicht einfach umbringen, verstehen Sie. Sondern sie wollten uns benutzen, tot oder lebendig. Die Gehirne der Toten wurden konserviert und zerlegt. Auch die Gehirne der Lebenden wurden manipuliert, nur mussten wir mit den Folgen weiterleben.« Holtz fasste in die Innentasche seines Mantels und nahm eine Packung dünner, dunkler Zigarren heraus. Er ließ eine aus der Packung gleiten und bot sie dem jüngeren Mann an, der aber den Kopf schüttelte und mit einer Handbewegung ablehnte. Holtz wickelte die Zigarre aus und zündete sie gemächlich an.
    »Sie wissen ja, wie Wissenschaftler Experimente mit Ratten und Affen machen. Na ja, auf Schloss Hohenstein nahmen sie für die Versuche uns Kinder.« Holtz spielte mit seiner Zigarre und nutzte sie eher, um sich daran festzuhalten, als zum Rauchen.
    »Die klugen Kinder wie ich und Ihr Großvater, wir lernten schnell, deshalb überlebten wir. Aber es war die Hölle. Auf welche Weise, glauben Sie, entwickelten die Nazis ihre Verhörmethoden? Wir waren ihr Übungsmaterial. Wochenlang wurde uns der Schlaf entzogen, bis wir halluzinierten und so durcheinander waren, dass wir unseren eigenen Namen nicht mehr sagen konnten. An den Geschlechtsteilen bekamen wir Elektroschocks, um festzustellen, wie lange wir ein Geheimnis für uns behalten konnten. Die Mädchen wurden vor und nach der Pubertät vergewaltigt, um zu untersuchen, welche emotionale Wirkung das hatte. Manchmal wurden die Jungen gezwungen, an den Vergewaltigungen teilzunehmen, damit man ihre Reaktion beobachten konnte. Sie steckten Gummischläuche durch unsere Kehlen und gossen Wasser direkt in die Lunge. Ihr Großvater und ich, wir haben das überlebt, Gott weiß wie. Tagelang konnte ich nichts essen, meine Speiseröhre schmerzte wie eine einzige lange Wunde. Aber es gab viele, die es nicht schafften und ertranken.
    Manchmal organisierten sie Vorführungen. Sie luden Ärzte von anderen Anstalten ein, SS -Offiziere und Honoratioren des Ortes. Irgendwelche Schwachsinnigen, Kinder mit Down-Syndrom oder Spastiker wurden ausgesucht. Die Ärzte führten sie dann dem Publikum vor und verkündeten, sie müssten zum Wohle des Volkes ausgerottet werden. Wir wurden nur als Bürde für das Staatssäckel betrachtet. Sie sagten zum Beispiel Dinge wie: ›Ein Dutzend Soldaten kann ausgebildet werden für die Kosten, die die Pflege einer dieser Kreaturen in einem Anstaltsmonat verursacht.‹
    Und es gab kein Entkommen. Ich erinnere mich an Ernst, einen Jungen, der mit uns eingeliefert wurde. Seine einzige Sünde bestand darin, dass sein Vater wegen seiner Faulheit zum Staatsfeind erklärt worden war. Ernst dachte, er könnte sie überlisten. Er versuchte, dadurch ihr Vertrauen zu gewinnen, dass er so fleißig arbeitete, wie er nur konnte. Er fegte immerzu den Boden, putzte die Toiletten, machte sich überall nützlich. Eines Tages gelang es ihm, aus dem Hauptgebäude in den Hof hinauszukommen, und er rannte weg.« Holtz schauderte bei der Erinnerung daran.
    »Natürlich erwischten sie ihn. Wir waren im Speisesaal und aßen das labberige Zeug, das sie uns zum Abendessen gaben, als sie ihn an den Haaren hereinzerrten. Dann zogen sie ihn nackt aus. Vier Krankenschwestern hielten ihn auf einem Tisch fest, während zwei Ärzte ihm mit Stöcken auf die Fußsohlen schlugen und laut die Schläge zählten. Ernst schrie wie am Spieß. Sie schlugen weiter, bis seine Füße nur noch Klumpen rohen Fleisches waren und das Blut auf den Boden tropfte. Schließlich wurde er ohnmächtig. Und der Institutsdirektor stand mit einem Klemmbrett da und schrieb auf, wie viele Stockschläge man gebraucht und wie lange es gedauert hatte, um dies zu erreichen. Dann wandten sie sich zu uns um und sagten so ruhig, als kündigten sie an, was es zum Nachtisch gab, dass wir alle daran denken sollten, was mit jedem Teil unseres Körpers passieren würde, der sich nicht so benahm, wie es sich gehörte.« Holtz fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wissen Sie, dass dieses sadistische Schwein ein Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie geblieben ist, bis er im Jahr 1974 starb? Niemand will zugeben,

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