Ein kalter Strom
zurückgetreten und hatte gesagt: »Geben Sie mir fünf Minuten, ich muss etwas erledigen. Tee oder Kaffee?«
Sie wartete fünfzehn Minuten auf dem Besucherstuhl, dann kam Morgan, seitwärts mit der Hüfte die Tür aufstoßend, mit einem Becher in jeder Hand herein. »Hier, bitte«, sagte er und stellte einen Becher auf einen Papierstoß neben Carol. »Tut mir Leid, dass ich Sie habe warten lassen.«
Er ging hinter seinen Schreibtisch und zog den Stuhl zur Seite, damit der Computer ihr nicht die Sicht nahm. Sein beengtes Büro unterstrich noch, wie groß er war, bestimmt gut über einsachtzig, und er hatte auch die entsprechende kräftige Statur. Aber obwohl Mitte vierzig, war er schlank geblieben. Sie sah seine Schultermuskeln sich unter dem Hemd abzeichnen, das über der Magenpartie weder zu stramm saß noch die Knöpfe aus den Knopflöchern platzen ließ. Sein Gesicht war offen und kantig, die weit auseinander liegenden Augen ließen es harmlos erscheinen, was absolut irreführend war, wie Carol wusste. Jetzt lächelte er ihr zu, und um die Augen erschienen tiefe Fältchen. »Erstklassige Arbeit gestern«, sagte er. »Das Rauschgiftdezernat hat natürlich Gift und Galle gespuckt, aber es ist ihre eigene Schuld, dass alles schief gelaufen ist. Der Dezernatsleiter hat mir gestern Abend in den Ohren gelegen, bis ich Kopfweh hatte, aber ich sagte ihm, man dürfe eben die Konkurrenz nicht unterschätzen, besonders wenn jemand von meinen Leuten im gegnerischen Team mitspielt.«
»Stört es Sie nicht, dass ein Päckchen Koks auf der Straße zirkuliert, das nicht dort sein sollte?«, fragte Carol – teils, weil sie nicht selbstgefällig erscheinen, aber hauptsächlich, weil sie Morgan daran erinnern wollte, dass sie schließlich doch noch Polizistin war.
»Manchmal muss man eben einen schädlichen Nebeneffekt in Kauf nehmen. Ich habe eine viel umfassendere Perspektive.« Morgan nahm einen Schluck Kaffee und warf einen schnellen, prüfenden Blick über den Tassenrand, wurde dann aber wieder lockerer. »Außerdem haben sie den Kerl gestern Abend gefasst. Sie wussten, er würde nicht genug Zeit haben, das Zeug zu verscheuern, also haben sie etwa eine halbe Stunde, nachdem ich sie weggeschickt hatte, seine Tür eingetreten. Er war gerade dabei, es zu strecken, um dann das Doppelte dafür einzustreichen. Sie brauchen also kein schlechtes Gewissen zu haben, DCI Jordan.« Er grinste verständnisvoll. »Schön, dass durch die Agentenarbeit Ihr Polizei-Instinkt nicht abgestumpft ist.«
Carol sagte nichts, sondern nahm ihren Becher und probierte den Kaffee. Er war fast so gut, wie sie ihn selbst hätte machen können, das hieß, etwa 300 Prozent besser als alles, was sie je in Polizeibüros getrunken hatte. Ihr Respekt vor Morgan wuchs.
Er beugte sich über den Tisch und zog einen Hefter unter einem Stoß mit handschriftlichen Notizen hervor, schlug ihn auf und schob ihn nach einem kurzen Blick auf den Inhalt zu Carol hinüber. »Hier«, sagte er, als sie nach dem unbeschrifteten Deckel griff. »Schauen Sie sich’s mal an.«
Carol klappte den Hefter auf und sah sich mit dem Schwarzweißfoto eines bemerkenswert gut aussehenden Mannes konfrontiert. Es war kein Studio-Porträt, sondern es wirkte wie eine Momentaufnahme, die gemacht worden war, ohne dass der Fotografierte es bemerkt hatte. Im Dreiviertelprofil aufgenommen, war sein Blick mit leicht gerunzelter Stirn und einer Falte zwischen den Augenbrauen auf etwas rechts vom Fotografen gerichtet. Sein glänzendes, dunkles, bis zum Kragen reichendes Haar war aus der hohen Stirn zurückgekämmt und fiel leicht wellig über die kleinen Ohren. Die Augen saßen tief über breiten slawischen Backenknochen. Er hatte eine Adlernase, und die vollen Lippen waren leicht geöffnet, so dass das Weiß der Zähne zu sehen war. Er sah so glatt und glänzend aus wie ein Diamant.
»Tadeusz Radecki, seine Freunde nennen ihn Tadzio«, sagte Morgan. »Er stammt aus Polen, obwohl er in Paris geboren wurde und in England und Deutschland aufgewachsen ist. Zur Zeit lebt er in einem Edelappartement in Berlin. Seine Großmutter war irgendeine Gräfin. Jede Menge blaues Blut, aber sein Vater war ein Spieler, und bis Tadeusz das Studium hinter sich hatte, waren nicht mehr viele Moneten übrig. Auf dem Papier nennt er eine sehr erfolgreiche Kette von Video-Verleihen sein Eigen. Nach dem Fall der Mauer ist er groß rausgekommen und hat all die Ossis abkassiert, die es nach der Hollywood-Kultur
Weitere Kostenlose Bücher