Ein kalter Strom
Abenteuerromane, Biografien und Bücher über Kriminalfälle, die er über Bord warf, wenn er fertig war, damit der alte Mann ihn nicht bei etwas ertappte, was er bestenfalls als Zeitverschwendung gerügt hätte. Das Lesen hatte ihn gelehrt, unter die Oberfläche zu sehen und den Dingen auf den Grund zu gehen.
So wurde das Geheimnis von Schloss Hohenstein der Schlüssel, der ihm zur verschlossenen Stätte seiner Vergangenheit Zugang gewährte. Er musste immer wieder durch die Korridore wandern und die Zimmer erforschen, bevor er begreifen konnte, was sich wirklich darin verbarg. Einige dieser Räume blieben beharrlich im Dunkel, es gab keine Möglichkeit, Licht darauf zu werfen. Zum Beispiel seine Großmutter, die gestorben war, bevor er geboren wurde. Er hatte keine Ahnung, ob sie der Hauptlast des Sadismus seines Großvaters ausgesetzt gewesen war, oder ob, solange sie am Leben war, ihre Liebe ausgereicht hatte, um seine Wut zu besänftigen. Es war nicht möglich, das herauszufinden.
Auch über seine Mutter wusste er fast nichts. Sein Großvater hatte sie immer nur ein Luder genannt, oder ein Weibsstück, das sein Haus beschmutzt hätte. Es gab nicht einmal ein Foto von ihr in den Papieren des alten Mannes. Er hätte hundertmal auf der Straße an ihr vorbeigehen können, ohne sie zu erkennen. Er redete sich gerne ein, dass er in seinem Hass wie von einem Stromschlag getroffen auf das Weibsbild aufmerksam werden würde, wenn sie auftauchte, wusste aber, dass dies eine Illusion war.
Der Geburtsurkunde entnahm er einige wenige Tatsachen. Sie hieß Inge. Bei seiner Geburt war sie neunzehn gewesen, und als Beruf war Sekretärin angegeben. An der Stelle für den Namen seines Vaters war nichts eingetragen. Entweder hatte sie nicht gewusst, wer es war, oder sie hatte Gründe für ihr Schweigen gehabt. Vielleicht war er verheiratet gewesen oder ein grüner Junge, an den sie nicht ihr ganzes Leben lang gebunden sein wollte. Vielleicht wollte sie ihn vor dem Zorn ihres eigenen Vaters schützen. All diese Möglichkeiten gab es, da er nichts darüber wusste, was für ein Mensch sie gewesen war oder ob sie von dem alten Mann so brutal unterdrückt worden war wie er. Aber trotzdem verachtete er sie dafür, dass sie ihn dem Schicksal überlassen hatte, dem sie selbst entkommen war.
Nach dem Begräbnis des alten Mannes hatte er die Männer auf dem Schiff gefragt, was sie über seine Mutter wüssten. Solange der Alte lebte, hatten sie nie gewagt, den Mund aufzumachen, aber als er endgültig fort war, hatte Gunther ihm das Wenige, das er wusste, erzählt.
Inge war sehr streng erzogen worden. Ihre Mutter passte gut auf sie auf und hatte sie in die Schablone der anständigen deutschen Frau gezwungen. Aber als sie starb, hatte Inge ihre Chance ergriffen. Wann immer der alte Mann nach Hause kam, war sie denkbar sittsam, servierte ihm das Essen und kümmerte sich darum, dass die Wohnung sauber und in Ordnung war, zog sich anständig an und sprach nur, wenn sie gefragt wurde. Aber es war ganz anders, sobald die
Wilhelmina Rosen
unterwegs war.
Gunther hatte von anderen Schiffern gehört, dass Inge oft in Hafenbars gesehen wurde, wo sie mit Matrosen bis zum frühen Morgen trank. Natürlich gab es Liebhaber, so viele, dass sie den Ruf eines Mädchens hatte, mit dem man Spaß haben konnte, wenn auch nicht den, eine Nutte zu sein.
Sie musste gewusst haben, wie riskant das war. Die Welt der Leute, die auf Schiffen arbeiten, ist begrenzt, und sie haben einen starken Sinn für ihre Gemeinschaft und das, was dort vorfällt. Ihr Benehmen konnte ihrem Vater nicht verborgen bleiben. Aber bevor das geschah, wurde sie schwanger. Jetzt, wo er darüber nachdachte, überraschte es ihn, dass seine Mutter nicht abgetrieben hatte. Mitte der siebziger Jahre war es nicht schwer gewesen, in Hamburg eine Abtreibung zu bekommen. Wenn sie bereit gewesen war, dem Zorn ihres Vaters standzuhalten, hatte sie ihr Kind wohl wirklich unbedingt behalten wollen.
Gunther erzählte, sie habe die ersten fünf oder sechs Monate die Schwangerschaft mit schlabberigen Pullovern geheim halten können. Als ihr Vater es herausfand, war er über alle Maßen empört. Einige Wochen war das Leben an Bord die reine Hölle, der alte Mann in miserabler Laune, und die Mannschaft konnte nie etwas recht machen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie das gewesen sein musste, und war dankbar, dass er es nicht miterlebt hatte.
Eine bedrohliche Stille trat die nächsten zwei Monate
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