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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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schon lange, etwas über Krasic und Radecki herauszufinden, aber man hat sie nie festnageln können. Es gibt wahrscheinlich nur vier oder fünf Leute, die Radecki tatsächlich mit diesen Dingen belasten könnten, und sie haben zu große Angst, auszusagen. Sehen Sie sich das nächste Foto an.«
    Carol blätterte um zum folgenden Bild. Es zeigte die Leiche eines Mannes, der auf einer kurzen Steintreppe lag. Der größte Teil seines Kopfes fehlte. Es war kein schöner Anblick.
    »Das war nach Meinung der Deutschen einer der Leute, die es so hätten drehen können, dass Radecki etwas nachzuweisen gewesen wäre. Er ist vor zwei Tagen aufgrund der Tatsache, dass er eine Ladung Stoff geliefert hatte, die nicht in Ordnung war und ein halbes Dutzend Süchtiger umbrachte, verhaftet worden. Auf den Stufen der Polizeiwache schossen sie ihm eine Kugel in den Kopf. So wenig Angst haben diese Typen.«
    Carol fühlte so etwas wie eine Mischung aus Furcht und Erregung, die sich immer bei der Aussicht auf eine Jagd einstellte. Sie hatte keine Ahnung, was Morgan mit ihr vorhatte. Aber was immer es sein würde, es war klar, dass sie jetzt in die Spitzenklasse aufstieg. »Also, was ist meine Aufgabe?«
    Morgan fand den Inhalt seiner Tasse offenbar plötzlich sehr interessant. »Radecki hatte eine Geliebte, Katerina Basler. Sie waren seit vier Jahren zusammen. Wenn er einen Schwachpunkt hatte, dann war es Katerina.« Er sah Carol an. »Er war auf jeden Fall verrückt nach ihr.«
    »War?«
    »Katerina starb vor zwei Monaten bei einem Autounfall. Radecki war am Boden zerstört. Und ist es immer noch, haben wir gehört. Nachdem sie starb, ist er zusammengebrochen, hat sich in seiner feinen Wohnung eingeschlossen, und Krasic musste sich um das Tagesgeschäft kümmern. Aber jetzt ist er wieder da. Und an diesem Punkt greife ich ein. Sehen Sie sich das nächste Bild an.«
    Carol blätterte gehorsam um. Als sie auf ihr Ebenbild hinunterstarrte, bekam sie an den Armen Gänsehaut. Die Frau auf dem Foto hatte langes Haar, aber davon abgesehen war der erste Eindruck, dass es eine Zwillingsschwester von ihr hätte sein können. Sich ihrer Doppelgängerin in einer Polizeiakte gegenüberzusehen, war eines der beunruhigendsten Dinge, die sie je erlebt hatte. Ihre Hände wurden feucht, und sie merkte, dass sie die Luft angehalten hatte. Vorsichtig atmete sie aus, als könne die ausgeatmete Luft die Illusion wegblasen. »Mein Gott«, protestierte sie gegen diese sichtliche Verletzung ihrer eigenen Individualität.
    »Es ist unheimlich, nicht wahr?«
    Carol studierte das Bild jetzt eingehender und sah Unterschiede. Katerinas Augen waren etwas dunkler. Ihre Münder waren unterschiedlich geformt. Ihr Kinn war stärker als das Katerinas. Unmittelbar nebeneinander hätte man sie problemlos auseinander halten können. Und doch bestand bei Carol der erste Eindruck fort. »Es ist merkwürdig, zu denken, dass es jemanden mit demselben Gesicht gibt. Was für ein sonderbarer Zufall.«
    »Das kommt vor«, sagte Morgan. »Sie können sich vorstellen, wie baff ich war, als mir Ihr Gesicht von einem Bewerbungsbogen entgegensah. Da kam uns die Idee für diese Operation.«
    Carol schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie könnte meine Schwester sein.«
    Morgans Lächeln erinnerte Carol an das Gähnen eines Löwen. »Lassen Sie uns hoffen, dass Tadzio auch so denkt.«

Kapitel 15
    D ie
Wilhelmina Rosen
zog ihre Bahn durch das trübe Wasser. Es war eine Strecke ohne Schleusen oder andere Hindernisse, deshalb hatte er Gunther ans Steuer geschickt und hatte Zeit, sich in seiner Kajüte mit einem Stoß Unterlagen zu beschäftigen. Frachtbriefe, Quittungen für Treibstoff und Gehaltsabrechnungen lagen bereit. Aber in Gedanken schweifte er immer wieder von dieser Aufgabe ab.
    Heinrich Holtz’ Geschichte hatte so viele Fragen aufgeworfen. Seine Mannschaft mochte ihn wohl für ein schlichtes Gemüt und für ganz normal halten, aber in seinem Kopf hatte sich immer sehr viel mehr abgespielt, als er erkennen ließ. Immer schon hatte er in seiner eigenen Gedankenwelt gelebt, auch weil er ja keinen Umgang mit Gleichaltrigen hatte. Das Einzige, was die innere Düsternis gemildert hatte, war das Lesen gewesen, obwohl sein Großvater versucht hatte, ihm sogar das zu verweigern. Als Teenager hatte er gelernt, Lesestoff an Bord zu schmuggeln, zerfledderte Taschenbücher, die er von Secondhand-Läden und Bücherständen kaufte. Oft las er allein in seiner winzigen Koje im Bug und verschlang

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