Ein kalter Strom
ableugnen konnte. »Und du könntest in einem sicheren Umfeld arbeiten.« Das Kalkül war natürlich, dass niemand die Blamage mitbekommen würde, wenn er mit seinen etwas eingerosteten Fertigkeiten Mist baute. Er glaubte zwar nicht, dass Carol dies erwartete, begriff aber, dass sie vermutete, er könne dies befürchten. Und damit hatte sie auch Recht.
Es war verlockend. Aber er war sich nicht sicher, ob es ihn aus den richtigen Gründen interessierte. Der Gedanke drängte sich ihm immer wieder auf, dass es ihm einen triftigen Grund geben würde, in ein Flugzeug nach Berlin zu steigen, weil er sich natürlich eingehend mit Petra unterhalten müsste, die bei dieser geheimnisvollen Operation die entscheidende Rolle zu spielen schien. Und für ihn bedeutete Berlin im Moment Carol, der er damit helfen konnte und an die er ständig dachte, seit sie London verlassen hatte.
Es wäre also ein unredlicher Grund, diese Gelegenheit zu ergreifen. Wenn er Carols wegen nach Berlin flöge, wären seine Gedanken nicht auf die Arbeit konzentriert, die er zu erledigen hatte. Noch schlimmer war, dass seine Gegenwart sich als das Gegenteil von hilfreich für Carol erweisen könnte. Sie musste so konsequent wie möglich ihre Rolle spielen, und wenn er dauernd wie Hansdampf in allen Gassen auftauchte, konnte ihr das die Beibehaltung von Caroline Jacksons Identität erschweren. Es war eine Sache, ihr aus der Ferne Einsichten und Unterstützung anzubieten. Persönlich vor Ort zu sein, könnte sie dagegen in Versuchung führen, sich zu stark auf ihn zu verlassen. Wenn sie dann im kritischen Moment ganz auf sich selbst gestellt wäre, würde ihr vielleicht das nötige Vertrauen fehlen, durchzuhalten.
Aber trotzdem
, dachte er,
es könnte nicht schaden, mal im Netz nachzusehen
. Er rief seine Suchmaschine auf und gab »Bremen + Mord + Psychologie + Dozent« ein, um sich erst einmal den neuesten Fall anzusehen. Sekunden später hatte er einen deutschen Zeitungsbericht vor sich. Zum Glück hatte er in der Schule Deutsch gelernt und sich so auf dem Laufenden gehalten, dass er wissenschaftliche Artikel lesen konnte. Aber selbst wenn er ihn nicht verstanden hätte, wäre ihm etwas darin wie ein Feuerwerk am Nachthimmel sofort aufgefallen.
Tony starrte auf den Bildschirm und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Es musste ein Irrtum sein. Er ballte die Fäuste und runzelte die Stirn, rieb sich die Schläfen mit den Knöcheln und versuchte, das einzuordnen, was er da las.
Aber es war kein Zweifel möglich. Es konnte keine zweite Margarethe Schilling geben, die an der Universität Bremen Psychologie lehrte. Es war jenseits jeder Glaubwürdigkeit. Aber genauso unmöglich erschien ihm der Gedanke, dass Margarethe Schilling von einem Serienmörder getötet worden sein sollte.
Er sah ihr Gesicht jetzt genau vor sich. Der Mund lächelte breit wegen irgendeiner Äußerung, Lachfältchen erschienen in den Augenwinkeln. Es war kaum zu glauben, dass irgendein Psychologe auf dieser Welt so viel Grund zum Lachen fand, dass sich die Falten so tief eingruben. Offenes blondes Haar, ungeduldig hinter die Ohren geschoben, wenn sie beim Diskutieren ein Argument vorbrachte. Lebhaft, intelligent und so streitlustig, dass es einen fast auf die Palme brachte.
Sie hatten sich drei Jahre zuvor bei einem Symposium in Hamburg kennen gelernt. Tony hatte sich für den Zusammenhang zwischen Religiosität und bestimmten Typen von Serientätern interessiert, und Margarethes experimentelle Arbeit faszinierte ihn. Er hatte ihren Vortrag gehört und hätte gern einige Probleme näher mit ihr besprochen. Sie waren mit ein paar Kollegen in ein Lokal gegangen und hatten das offizielle Essen verpasst, weil sie so in ihre Diskussion vertieft waren.
Margarethe und er hatten viele Gemeinsamkeiten entdeckt. So viele, dass sie ihn überredet hatte, seinen Flug umzubuchen und für zwei Tage mit nach Bremen zu kommen, damit er sich mit ihren Forschungsergebnissen aus erster Hand vertraut machen konnte. Es war eine faszinierende Erfahrung gewesen, und der Austausch von Informationen und Ideen hatte ihn angeregt. Sie hatte ihn sogar im Gästezimmer ihrer urigen, umgebauten Scheune aus dem neunzehnten Jahrhundert untergebracht, wo sie zusammen mit ihrem Mann Kurt und ihrem Sohn Hartmut in einem kleinen Dorf in der Nähe einer Künstlerkolonie etwa fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt wohnte.
Kurt hatte er nicht sympathisch gefunden, denn dieser hatte aus der Not keine Tugend, sondern
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