Ein kalter Strom
Petra Leid. Ganz spontan traf sie eine Entscheidung. »Pass auf, überlass das mir. Ich habe Tony erst vor ein paar Tagen gesehen, und ich habe das Gefühl, dass er sich vielleicht auf so etwas einlassen könnte. Er genießt sein zu ruhiges Leben nicht so sehr, wie er es sich erhofft hatte. Dies könnte ihn so faszinieren, dass er sich in den Kampf zurückwagen wird. Sorge inzwischen dafür, dass Marijke die Sache offiziell ins Rollen bringt. Je eher, desto besser. Und ich werde tun, was ich kann, um zu helfen.«
»Ich glaube, du hast genug Sorgen ohne diese Sache«, sagte Petra halbherzig.
»Es wird mir etwas zum Nachdenken geben, und dabei kann ich mich auf das stützen, was ich wirklich bin«, sagte Carol. »Es gibt nichts Besseres als die Realität, um das Zelig-Syndrom zu überwinden.«
So musste sie jetzt also ihr Versprechen Petra gegenüber einlösen. Sie musste die richtigen Worte finden, die Tony reizen würden, seine Hilfe anzubieten. Sie hatte das Gefühl, eine halb offene Tür einzurennen, aber sie würde trotzdem alle Kräfte aufbieten müssen, um ihn zu überzeugen. Carol ging in die kleine Küche und öffnete eine Flasche Rotwein. Es war Zeit, sich ein bisschen Mut anzutrinken. Zuerst musste sie Tony eine E-Mail schicken. Dann galt es, sich auf den morgigen Tag vorzubereiten, an dem sie Tadeusz Radecki endlich persönlich kennen lernen würde.
Kapitel 20
T ony streckte die Arme, dass die Gelenke in Nacken und Schultern knackten. Er wurde zu alt, um den ganzen Abend vor einem Bildschirm zu hocken. Aber es war eine gute Möglichkeit, der komplizierten Reaktion auszuweichen, die die Nachricht über Vance in ihm ausgelöst hatte. Er hatte den Telefonstecker herausgezogen und sich in Arbeit gestürzt, damit vermied er das Grübeln und ging zugleich den Anrufen der Journalisten aus dem Weg.
Er schloss die Datei, die er gelesen hatte, die Dissertation einer seiner Studentinnen. Es war keine schlechte Arbeit, obwohl die Beweisführung hier und da an wichtigen Stellen mit der Theorie nicht mithalten konnte. Bei der nächsten Besprechung würde er ein ernstes Wort mit ihr reden müssen. Diese Probleme musste sie jetzt aufarbeiten, bevor sie sich so verfestigten, dass sie nicht mehr leicht zu beheben waren.
Bevor er den Computer ausschaltete, öffnete er sein E-Mail-Programm. Es lohnte sich immer, spätabends seine Mailbox zu überprüfen. Er war ja schon dabei, zu Bett zu gehen, aber große Teile Amerikas waren noch mitten im Arbeitstag, und er hatte regelmäßig Kontakt mit Freunden und Kollegen auf der anderen Seite des Atlantiks.
Heute gab es nur eine einzige Nachricht. Er aktivierte die Chiffriersoftware, die Carols Bruder ihm geschickt hatte, und öffnete die E-Mail.
Hi, Tony,
jetzt bin ich also in Berlin. Es ist allerhand los hier, die Stadt scheint zu florieren. Und das ist, wie wir wissen, immer ein guter Nährboden für ausgefeilte Kriminalität!
Ich bin noch nicht auf TR getroffen, das ist für morgen Abend angesetzt, da werden wir sehen, ob Petras Strategie aufgeht oder mit Pauken und Trompeten durchfällt. Ich weiß, du hältst die Idee von der psychologischen Seite her für brauchbar, aber ich bin trotzdem sehr nervös. Jetzt, wo es so kurz bevorsteht, bin ich nur noch ein Nervenbündel. Ich kann nichts essen und weiß, dass ich heute Nacht bestimmt nicht schlafen werde. Ich trinke ein paar Gläser Wein, um es ein bisschen abzumildern, aber ich bin nicht überzeugt, dass das einen Unterschied machen wird. Petra hat intensiv mit mir gearbeitet, und das sollte mich wohl zuversichtlich machen. Aber ich kann nicht behaupten, dass es wirkt. Obwohl ich das Gefühl habe, TR ganz gut zu kennen, bin ich nicht sicher, ob ich weiß, wer Caroline Jackson ist … Hoffen wir, dass ich mich nicht bei der ersten Schwierigkeit fürchterlich blamiere.
Darüber zu reden macht mich allerdings nur noch nervöser. Der eigentliche Grund, weshalb ich dir heute Abend schreibe, hat tatsächlich nichts mit meiner Aufgabe als Agentin zu tun.
Als wir uns kürzlich gesehen haben, schien anzuklingen, dass du froh wärst, deine Fertigkeiten als Profiler wieder einzusetzen, wenn sich die richtige Gelegenheit ergäbe. Und ich glaube, ich habe genau das Richtige für dich.
Die Grundsituation ist folgende: zwei Morde, von denen wir wissen, möglicherweise drei. Zwei Männer, eine Frau. Alle Opfer sind Psychologen, die an der Universität tätig waren. Sie wurden alle auf dem Rücken liegend gefunden, Hände und Füße am
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