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Ein Kelch voll Wind

Ein Kelch voll Wind

Titel: Ein Kelch voll Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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muss es gewesen sein und doch war sie es nicht«, sagte er schließlich. »N ein, sie war es wirklich nicht… Da war nichts an ihr…«
    »N ichts in ihren Augen«, unterbrach Jules ihn zustimmend.
    »U nverkennbar das Kind, und doch auch wieder nicht«, sagte Daedalus und listete die Fakten mit den Fingern auf. »S ie war ganz offensichtlich weder älter noch jünger.«
    »R ichtig«, erwiderte Jules bestimmt.
    Beiden dämmerte im selben Moment, was das bedeutete. Daedalus’ Kinnlade fiel herab und Jules legte sich eine Hand ans Herz. »O h mein Gott«, wisperte er. »Z willinge. Zwei von der Sorte! Zwei!«
    Er wusste nicht, wie lange er Daedalus nicht mehr so hatte lächeln sehen.

Kapitel 1
    Clio
    Das war so verdammt frustrierend. Ehrlich, wenn ich die Zähne noch fester zusammenbiss, würde mein Gesicht zu einer Fratze erstarren.
    Meine Großmutter saß mir gegenüber und verströmte Gelassenheit wie ein Parfum, einen Duft, den sie sich morgens hinter die Ohren tupfte und der sie durch den ganzen Tag begleitete.
    Tja, leider hatte ich vergessen, meine dämliche Gelassenheit aufzutragen, und jetzt hielt ich diese Kupfermünze in der Faust und meine Fingernägel drückten ärgerliche Halbmonde in meine Handfläche. Noch eine Minute, und ich würde das Ding durchs Zimmer werfen, die Kerze umschmeißen und einfach gehen, um zu… shoppen. Oder irgendwas in der Art.
    Aber ich wollte das hier so sehr.
    So sehr, dass ich es fast schmecken konnte. Und jetzt, während ich in die ruhigen, durchdringend blauen Augen meiner Großmutter sah, die mich über die Kerzenflamme hinweg anblickten, hatte ich das Gefühl, sie könne jeden einzelnen Gedanken lesen, der mir durch den Kopf huschte. Und dass sie sich amüsierte.
    Ich schloss die Augen und tat einen tiefen Atemzug bis hinunter in mein Bauchnabelpiercing. Dann stieß ich langsam die Luft aus und hoffte, dass sie alle Anspannung, Ungeduld und jeden Zweifel mit sich nehmen würde. Bitte.
    Cuivre, orientez ma force. Kupfermünze, lenk meine Kraft, dachte ich. Wobei ich es eigentlich gar nicht dachte. Es war viel weniger als das. Die Idee hatte sich nur leicht in meinem Kopf angedeutet, sodass es nicht mal ein Gedanke war, geschweige denn in Worte gefasst werden konnte. Es war nur pures Gefühl, so zart wie ein Band aus Rauch, verwoben in die Macht der Bonne Magie.
    Montrez-moi, hauchte ich. Zeige es mir. Atme ein, atme aus.
    Du musst gehen, bevor du rennen kannst. Du musst krabbeln, bevor du gehen kannst.
    Montrez-moi.
    Quarzkristalle und ungeschliffene Smaragdbrocken lagen an zwölf Punkten um mich und meine Großmutter herum. Eine brennende weiße Kerze stand zwischen uns auf dem Boden. Mein Hintern war schon ganz taub, genau wie gestern. Atme.
    Montrez-moi.
    Es funktionierte nicht, es funktionierte einfach nicht. Je n’ai pas de la force, rien du tout. Ich öffnete die Augen, bereit, zu schreien.
    Da erschien vor mir eine riesige Zypresse.
    Keine Großmutter. Nur eine gigantische Zypresse, die mir beinahe die Sicht auf den Himmel und die grauen Wolken versperrte. Ich senkte den Blick. Noch immer hielt ich die Münze, die in meiner Hand heiß geworden war. Ich war in irgendeinem Wald, ich konnte nicht erkennen, wo genau. Une cyprière. Ein waldiger Sumpf. Luftwurzeln, die aus dem stillen, braungrünen Wasser hervorstießen. Aber ich stand an Land, auf festem, moosbedecktem Grund.
    Die Wolken wurden dunkler, getrübt von einem Sturm in ihrem Inneren. Blätter peitschten an mir vorbei, manche landeten auf dem Wasser, andere streiften mein Gesicht. Ich hörte Donner, ein tiefes Grollen in meinen Ohren und ein Vibrieren in der Brust. Dicke Tropfen platschten auf die Erde und rannen mir über die Wangen wie Tränen. Plötzlich erschütterte ein gewaltiger Krach die Stelle, auf der ich stand, gleichzeitig blendete mich ein Blitzschlag. Beinahe unmittelbar darauf hörte ich ein bebendes, splitterndes Geräusch, wie ein Boot, das an einem Felsen zerschellte. Ich blinzelte und versuchte, etwas durch die rot-orange gleißenden Nachbilder vor meinen Augen zu erkennen. Da stand die Zypresse, gespalten in zwei Hälften, die sich gefährlich nach vorne neigten und bereits brachen, in die Tiefe gezogen von ihrem Gewicht.
    Am Fuße des Baums, zwischen zwei dicken Wurzeln, die bereits drauf und dran waren, sich aus der Erde zu lösen, sah ich ein plötzliches Aufsprudeln von… ja was eigentlich? Ich kniff die Augen zusammen. Wasser? Öl? Es war dunkel wie Öl und dickflüssig, doch der

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