Ein Kelch voll Wind
Taschentuch, und ich merkte, dass ich geweint hatte.
»D ie minderjährige Thais Allard wird in die Obhut einer Freundin der Familie gegeben.« Die Richterin sah mich freundlich an. Ich warf Mrs Thompkins einen Blick zu und dachte daran, wie seltsam es sein würde, mit ihr nach Hause zu gehen, mit meinem alten Leben nebenan, und in den nächsten vier Monaten, bis ich achtzehn würde, in ihrem Gästezimmer zu schlafen. Und was dann?
Wenn ich einen Freund gehabt hätte, hätte ich zu ihm ziehen können. Es war wohl etwas voreilig gewesen, vor meiner Europareise mit Chad Woolcott Schluss zu machen. Ich seufzte, doch der Seufzer verwandelte sich in ein Schluchzen, das ich mühsam unterdrückte.
Die Richterin begann über die gerichtliche Erbscheinerteilung und die Testamentsvollstrecker zu sprechen und meine Gedanken verschwammen.
Ich liebte Bridget Thompkins. Sie war die Großmutter, die ich nie gehabt hatte. Als ihr Mann vor drei Jahren gestorben war, war es für mich gewesen, als würde ich einen Großvater verlieren. Könnte ich nicht einfach in unserem Haus bleiben und sie von nebenan aus mein Vormund sein lassen?
»U nd ist eine Person namens Axel Gauvin im Gerichtssaal zugegen?«, fragte Richterin Dailey über ihre Brillengläser hinweg.
»A x elle Go- wäh«, sagte eine Stimme hinter mir und verlieh dem Namen einen makellos französischen Klang.
»A xelle Gauvin«, wiederholte die Richterin geduldig.
Mrs Thompkins und ich warfen uns stirnrunzelnde Blicke zu.
»M s Gauvin, in Michel Allards Testament steht ganz klar, dass er Sie zum Vormund seines einzigen minderjährigen Kinds Thais Allard machen möchte. Ist das in Ihrem Sinne?«
Ich blinzelte heftig. Waaaaaas?
»J a, das ist es, Euer Ehren«, sagte die Stimme hinter mir, und ich fuhr herum. Axelle Gauvin, von der ich noch nie im Leben gehört hatte, sah aus wie die Chef-Domina eines Luxuspuffs. Sie hatte glänzendes schwarzes Haar, das zu einer perfekt wippenden Glocke geschnitten war und knapp über den Schultern endete. Der schwarze Pony rahmte zwei stark geschminkte Augen ein. Ihre grellen, blutrot geschminkten Lippen hatten entweder von Natur aus die Form eines Schmollmunds oder sie hatte sich Botox spritzen lassen. Der Rest war eine einzige verschwommene Vision aus glänzendem schwarzem Leder und silbernen Schnallen. Und das im Sommer. So etwas hatte Welsford, Connecticut, noch nie gesehen.
»W er ist das?«, flüsterte Mrs Thompkins schockiert.
Hilflos schüttelte ich den Kopf und versuchte, trotz meiner ausgedörrten Kehle zu schlucken.
»M ichel und ich haben uns in letzter Zeit nicht mehr gesehen«, sagte die Frau mit einer sinnlichen Raucherstimme, »a ber wir hatten uns fest versprochen, dass ich auf die kleine Thais aufpassen würde, wenn ihm etwas zustieße. Nur hätte ich nie gedacht, dass es tatsächlich mal so kommen würde.« Ihre Stimme brach. Ich drehte mich um und sah, wie sie sich ihre Augen abtupfte, die so dunkel waren wie ein Schacht.
Sie hatte meinen Namen richtig ausgesprochen, und das, obwohl sogar die Richterin »T heis« gesagt hatte. Aber Axelle hatte gewusst, dass es »T ha-iis« heißen musste. Wann hatte sie meinen Vater kennengelernt? Und wie? Mein ganzes Leben lang hatte es immer nur mich und meinen Dad gegeben. Ich hatte gewusst, dass er Verabredungen gehabt hatte, doch ich hatte die Frauen früher oder später immer kennengelernt. Und Axelle Gauvin war keine von ihnen gewesen.
»E uer Ehren, ich…«, begann Mrs Thompkins bestürzt.
»E s tut mir leid«, sagte die Richterin freundlich. »S ie sind noch immer die Testamentsvollstreckerin für Mr Allards Besitztümer, aber im Testament steht klar und deutlich, dass Ms Axelle Gauvin der Vormund für seine minderjährige Tochter werden soll. Natürlich können Sie das Testament vor Gericht anfechten … aber das wird ein teurer und langer Prozess.« Die Richterin nahm ihre Brille ab, und die eisige Gewissheit, dass das alles hier real war und ich tatsächlich bei dieser hartherzig aussehenden Fremden in meinem Rücken landen würde, drang in mein verängstigtes Bewusstsein vor. »I n nur vier Monaten wird Thais achtzehn. Rein rechtlich gesehen liegt die Entscheidung dann bei ihr, wo und mit wem sie leben möchte. Wobei ich sehr hoffe, dass Ms Gauvin die Tatsache berücksichtigen wird, dass Thais kurz davorsteht, ihr Abschlussjahr an der Highschool anzutreten, und dass der Einschnitt nicht ganz so groß wäre, wenn sie dafür in Welsford bleiben könnte.«
»I
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