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Ein Kelch voll Wind

Ein Kelch voll Wind

Titel: Ein Kelch voll Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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ch weiß«, sagte die Dame bedauernd. »A ber leider wohne ich in New Orleans und meine Geschäfte gestatten es mir nicht, für das nächste Jahr hierherzuziehen. Thais wird mit zu mir kommen müssen.«

    Ich stand in meinem Zimmer und ließ meinen Blick über all das schweifen, was ich zurücklassen musste, weil es nicht in einen Koffer passen würde. Genau genommen hatte ich sogar drei normale Koffer plus einen riesigen Schrankkoffer, den Mr Thompkins im Zweiten Weltkrieg benutzt hatte. Doch mein Schreibtisch würde in keines der Gepäckstücke hineinpassen.
    Schwer plumpste ich auf mein Bett und fühlte die abgenutzte Steppdecke unter meinen Fingern. Alles an mir war taub. Und das war mir nur recht so. Wenn ich es auch nur einen Moment zuließe, mich nicht taub zu fühlen, dann würde ein gigantischer, brüllender Schmerz meine Gedärme zerreißen und als kreischender, unaufhaltsamer, hysterischer Hurrikan der Qual in die Welt explodieren.
    Ich würde zu einer mir vollkommen unbekannten Lederfanatikerin nach New Orleans, Louisiana, ziehen. Allein der Gedanke daran, woher sie meinen Vater kennen könnte, bereitete mir Unbehagen. Wenn die beiden eine Liebesbeziehung gehabt hatten, würde mir dies den Dad nehmen, den ich kannte, und ihn durch einen gehirnamputierten Unbekannten ersetzen. Sie hatte gesagt, sie seien Freunde gewesen. So gute Freunde, dass er ihr sein einziges Kind anvertraut und doch niemals ihren Namen erwähnt hatte?
    Ein Klopfen an meiner Tür. Verblüfft sah ich auf, als Mrs Thompkins hereinkam. Ihr freundliches, rundes Gesicht wirkte abgespannt und traurig. Sie trug ein Tablett mit einem Sandwich und einem Glas Limonade, das sie auf meinem Schreibtisch absetzte. Sie blieb neben mir stehen, und ihre Finger fuhren mir durchs Haar, während ich immer noch nichts fühlen wollte.
    »B rauchst du Hilfe, Liebes?«, flüsterte sie.
    Ich schüttelte den Kopf und versuchte ein tapferes Lächeln, das jedoch jämmerlich misslang. Ein dumpfer Schmerzensschrei drohte aus mir herauszubrechen. Immer und immer wieder wurde mir klar, was geschehen war, und trotzdem konnte ich es noch nicht wirklich glauben. Mein Vater war tot. Für alle Ewigkeit verschwunden. Es war buchstäblich unglaublich.
    »D u und ich, wir wissen genau, was wir sagen wollen«, fuhr Mrs Thompkins mit sanfter Stimme fort, »d och im Moment ist es einfach zu schwierig, es auszusprechen. Ich möchte nur, dass du eins weißt: Es sind bloß vier Monate. Wenn es dir gefällt und du da unten bleiben willst«– sie sagte es, als meine sie die Hölle– »d ann ist das in Ordnung und ich wünsche dir alles Gute. Aber wenn du nach den vier Monaten wiederkommen möchtest, dann empfange ich dich mit offenen Armen. Verstehst du?«
    Ich nickte und diesmal lächelte ich wirklich. Sie lächelte mich ebenfalls an und ging.
    Ich konnte nichts essen. Ich wusste nicht, was ich packen sollte. Was war nur mit meinem Leben passiert? Ich war im Begriff, jeden und alles, was ich kannte, zurückzulassen. Ich hatte mich so darauf gefreut, nächstes Jahr aufs College zu gehen. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich diesen Ort, mein Zimmer, verlassen würde. Doch ich war noch nicht so weit, es war ein Jahr zu früh. Ich war für das alles noch nicht bereit.

Kapitel 3
    Vom Schicksal verbunden
    Ich greife in die Dunkelheit
    Um die zu berühren, die ich brauche
    Ich schicke meinen Geist mit einer Nachricht
    Er findet ihre Geister, dort, wo sie wohnen
    Wir sind verbunden durch die Zeit
    Wir sind verbunden durch das Schicksal
    Wir sind verbunden durch das Leben
    Wir sind verbunden durch den Tod
    Geh.
    Die Kerzenflamme flackerte kaum in diesem friedlichen Zimmer. Was für ein außerordentliches Glück, dass sie einen so passenden Ort gefunden hatten. Daedalus mochte den kleinen Dachboden mit der Decke, die steil nach unten zu den Wänden hin abfiel. Er saß bequem auf dem Holzparkett, das vor über zweihundert Jahren hier verlegt worden war. Er atmete langsam und betrachtete die unbewegte Kerzenflamme, die sich verkehrt herum in einer amethystfarbenen Glaskugel spiegelte, fast wie bei einem großen Auge, das in die Welt hinausstarrte.
    »S ophie«, hauchte Daedalus und stellte sich vor, wie sie bei ihrer letzten Begegnung ausgesehen hatte. Wie lange war das her, zehn Jahre vielleicht? Sophie. Fühl meine Verbindung zu dir, hör meine Botschaft. Daedalus schloss die Augen und atmete kaum, während er seine Gedanken über die Kontinente hinwegschickte, gegen die Zeit.

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