Ein Kelch voll Wind
nächste Blitzschlag machte das opake Rot von Blut sichtbar.
Das blutige Rinnsal teilte sich ebenfalls, lief über den Grund und sickerte langsam in das durchweichte Moos, wobei sich das Rot leuchtend gegen das grünliche Grau abhob. Ich blickte nach unten und sah den Blutstrom anschwellen, schneller werden und zwischen den Wurzeln hervorsprudeln. Meine Füße! Meine Füße waren über und über mit Blut bespritzt und meine Schienbeine damit gesprenkelt. Ich verlor die Fassung, schlug mir die Hände vor den Mund, schrie hinein und versuchte mich zu rühren. Doch ich schien fester mit der Erde verwurzelt als der Baum selbst.
»C lio! Clio!«
Eine kühle Hand, von der ich nicht wusste, woher sie kam, griff nach meinem Kinn. Schnell versuchte ich, den Regen aus meinen Augen zu blinzeln. Meine Großmutter stützte mein Kinn mit ihrer Hand, die andere hatte sie unter meinen Ellbogen gelegt.
»K ind, steh auf«, wies sie mich ruhig an. Die Kerze zwischen uns war umgestoßen worden, ihr Wachs tropfte auf den Holzboden. Meine Knie fühlten sich zittrig an, und ich rang nach Luft, während ich wild um mich blickte, um die Orientierung wiederzugewinnen.
»N an«, keuchte ich, während ich wie ein Fisch Luft schluckte. »N an, o déesse, das war ätzend.«
»E rzähl mir, was du gesehen hast«, sagte sie und führte mich aus dem Arbeitszimmer in unsere etwas schäbige Küche.
Ich wollte nicht darüber sprechen, es war fast, als hätte ich Angst, meine Worte würden die Vision wieder heraufbeschwören und mich dorthin zurückkatapultieren. »I ch habe einen Baum gesehen«, sagte ich widerstrebend. »E ine Zypresse. Ich war in einer Art Sumpflandschaft. Ein Sturm kam auf und dann… dann wurde der Baum von einem Blitz getroffen und in zwei Hälften gespalten. Und danach… ist Blut aus seinen Wurzeln geströmt.«
»B lut?« Sie blickte mich scharf an.
Ich nickte fröstelnd und fühlte mich ein bisschen so, als wäre ich krank. »J a, Blut, ein ganzer Fluss aus Blut. Er hat sich verzweigt und ist über meine Füße geflossen. Und dann habe ich angefangen zu schreien. Igitt.« Ich zitterte und konnte nicht umhin, auf meine nackten Füße zu schauen. Aber da war kein Blut. Nur gebräunte Haut und violett lackierte Nägel. Gut.
»E in Baum, der von einem Blitz entzweigespalten wird«, sinnierte meine Großmutter, während sie heißes Wasser in eine Teekanne goss. Ein dampfiger, nasser Geruch von Kräutern erfüllte den Raum und mein Frösteln ließ nach. »E in blutiger Fluss, der den Wurzeln entspringt. Und der Fluss teilt sich.«
»J a«, sagte ich, während ich eine Tasse in meinen kalten Händen hielt und den Dampf einatmete. »D as bringt die Sache auf den Punkt. Oh Mann.« Ich schüttelte den Kopf und nippte an dem Tee. »W as ist?«, fragte ich, als ich merkte, dass meine Großmutter mich beobachtete.
»D as ist interessant«, sagte sie in einer Art, die deutlich machte, dass ihr tausend andere Worte durch den Kopf schwirrten, die sie aber nicht aussprach. »E ine interessante Vision. Sieht aus, als wäre die Münze gut für dich. Wir werden morgen damit weitermachen.«
»N icht, wenn ich es verhindern kann«, murmelte ich in meine Tasse.
Kapitel 2
Thais
Das passiert nicht.
Doch auch wenn ich mir das Tausende und Abertausende Male vorsagte, irgendwann drang die unbarmherzige Realität doch wieder in mein Bewusstsein vor.
Mrs Thompkins neben mir tätschelte meine Hand. Wir saßen Seite an Seite im Zivilgericht von Welsford, dritter Bezirk, Connecticut. Noch vor zwei Wochen hatte ich beglückt eine pâtisserie anglaise in einer kleinen Bäckerei in Tours verspeist. Und heute wartete ich darauf, dass eine Richterin die Klauseln aus dem Testament meines Vaters mit uns besprach.
Denn mein Vater war tot.
Vor nur zwei Wochen hatte ich noch einen Dad gehabt, ein Zuhause, ein Leben. Dann hatte eine alte Frau in ihrem Wagen einen Schlaganfall erlitten und das außer Kontrolle geratene Fahrzeug hatte einen Bordstein auf der Main Street gerammt und meinen Vater getötet. Solche Dinge passierten einem doch nicht einfach so. Nicht wirklich. Das geschah in Filmen und manchmal in Büchern. Aber keinen echten Menschen, keinen echten Vätern. Nicht mir.
Und doch saß ich hier und hörte einer Richterin zu, die ein Testament verlas, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es existierte. Mrs Thompkins, die mein ganzes Leben lang unsere Nachbarin gewesen war, betupfte meine Wangen mit einem nach Lavendel duftenden
Weitere Kostenlose Bücher