Ein Kerl macht noch keinen Sommer
sie ebenfalls im Internet fand, wollte er nicht länger ausschließlich für die Schwerreichen und ohnehin Schönen entwerfen. Seine neue Zielgruppe sollte »die vergessene Frau« sein, die Frau, die sich für gewöhnlich hielt und sich in ihre Nische im Hintergrund des Lebens zurückgezogen hatte. Und auch das Preissegment würde auf ihr Portmonee zugeschnitten sein! Vladimir Darq erklärte, mit der richtigen Damenwäsche – seiner Damenwäsche – unter ihrer Kleidung könne sich jede Frau sexuell anziehend fühlen. Er hatte einen Bodyshaper entworfen, auf den zu verzichten sich keine Frau leisten könne, behauptete er selbstbewusst.
Er war auf etlichen Webseiten vertreten, und es gab sogar einen Online-Fanclub und Foren, die versuchten, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, auch wenn niemand mehr über ihn zu wissen schien als das, was in den Zeitungen stand. Er war offenbar ein echter internationaler Mystery-Mann. Oder war er überhaupt ein Mann? Auf ein paar Gothic-Internetseiten wurden wilde Spekulationen darüber angestellt, ob er sich nicht nur als Vampir vermarktete, sondern tatsächlich einer war. Unterstützt wurde diese These von mehreren offensichtlich mit Photoshop bearbeiteten Bildern von ihm mit blassgoldenen Augen, gebleichter weißer Haut und übertrieben dargestellten Fangzähnen. Offenbar wickelte er seine Geschäfte vorzugsweise in den Abendstunden ab, da er die Sonne hasste, was noch mehr Öl ins Feuer goss. Lauter Boulevard-Blödsinn, nichts weiter.
Unverheiratet und kinderlos, war er neben ein paar wunderschönen Models zu sehen, den Arm um seinen »Freund« gelegt, den Fotografen Leonid Szabo. Anna hätte sich denken müssen, dass Vladimir Darq schwul war. Natürlich, ein Mann, der an ihr interessiert war, konnte unmöglich heterosexuell sein.
Anna verbrachte den restlichen Ostersonntag damit, sich einen Jesusfilm anzusehen und sich mit zu viel Wein einen Schwips anzutrinken. Sie weinte sehr, als Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, und als die Schleusen erst einmal geöffnet waren, weinte sie wegen Tony und der klaffenden, schmerzlichen Lücke, die er in ihrem Herzen hinterlassen hatte. Sie weinte um ihren Kater, der sie wegen einer anderen Frau verlassen hatte, verführt von Edna, der Witwe, die ihm Räucherlachs zu fressen gab. Sie weinte bitter und ungeniert darüber, dass niemand auf der ganzen Welt sie liebte und eines Tages, wenn es so weit war, niemand zu ihrer Beerdigung kommen würde. Es würde keinen Grabstein geben, Gras und dickes, hässliches Unkraut würden wild über ihrer Grabstelle wuchern, und Hunde würden darauf ihre Haufen machen. Im Tod würde sie noch vergessener sein, als sie es zu ihren Lebzeiten je gewesen war.
Ihr Blick fiel auf ihr Gesicht im Spiegel, als sie zum Waschbecken taumelte, nachdem sie sich in die Toilette übergeben hatte. In einem kurzen Moment der Klarsicht in ihrem von Alkohol benebelten Gehirn begriff sie, dass sie so nicht weitermachen durfte. Sie sah aus, als sei sie gestorben und beerdigt, wieder ausgegraben und von der Schaufel des Totengräbers getroffen worden. Das konnte doch nicht alles gewesen sein? Sie war wirklich die vergessene Frau, von der Vladimir Darq redete. Sie schlief ein, seine Visitenkarte mit einer Hand umklammernd.
Vierundzwanzigstes Kapitel
H allo allerseits.« Christie stürmte fröhlich zur Tür herein. »Hattet ihr ein schönes langes Osterwochenende?«
»Wunderbar, danke«, kam die einhellige Antwort.
Anna hoffte, sie würde sich dazu nicht näher äußern müssen. Was könnte sie schon sagen? Hab viel geweint, mich zu Jesus sinnlos besoffen – ach ja, und ich bin auf dem Bahnhof in Ohnmacht gefallen und wurde von einem schwulen Vampir gebeten, mich in Unterwäsche zu verkleiden . Mehr hatte Ostern einfach nicht zu bieten gehabt. Und zu allem Unglück hatte sie heute Morgen auch noch diese Schlampe Lynette Bottom mit ihrem Tony im Auto an sich vorbeifahren sehen. Und sie hatte dröhnende Kopfschmerzen, nachdem sie sich gestern Abend in den Schlaf geweint hatte. Na ja, »Schlaf« war ein bisschen übertrieben. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Gestern Abend hatte sie mindestens eine Stunde gebraucht, bis sie in einen Traum von Tony und einer hochschwangeren Lynette versank, die vor dem Süßwarenstand Sailor Sid auf dem Markt von Barnsley heirateten. Sie fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. Schmerzen dröhnten in ihrem ganzen Körper, und sie
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