Ein Kerl macht noch keinen Sommer
dem Boden war nur ein schmaler Spalt, durch den man kaum etwas sehen konnte, daher ging Dawn in die Kabine daneben und stellte sich auf den Toilettensitz, um über die Wand in die andere Kabine zu spähen. Dort sah sie Anna, auf dem Toilettendeckel kauernd, den Kopf gegen die Trennwand gestützt, während ihr die Tränen übers Gesicht strömten. Die Stille, mit der sie das taten, war das Beunruhigendste an der ganzen Szene.
Dawn fiel fast von ihrem Toilettensitz, als die Tür zum Toilettenraum aufging, aber zum Glück war es nur Christie.
»Wir dachten schon, hier drinnen wäre ein Bermuda-Dreieck, als Sie auch noch verschwunden sind. Was ist denn los?«
Dawn machte den Mund auf, um ihr zu antworten, aber dann schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Christie, so nett sie auch war, immer noch ihre Chefin war und dass Anna stockbesoffen aussah. Oder noch schlimmer, wie von Drogen benebelt.
»Geht es ihr gut?«, fragte Christie. »Was ist denn los?«
»Nicht besonders«, sagte Dawn zögernd. Wenn Anna betrunken war, dann wollte sie sie nicht noch mehr in die Bredouille bringen.
Christie hämmerte gegen die Tür.
»Anna, Liebes, machen Sie auf. Ist Ihnen nicht gut?«
Anna beugte sich vor, ließ den Kopf in die Hände sinken.
»Wir müssen da reingehen«, sagte Christie. Sie flüsterte durch die Tür: »Anna? Anna, können Sie die Tür aufmachen?«
»Nein, bitte lassen Sie mich«, sagte Anna.
»Ich gehe rein.« Dawn stopfte sich den Rock in ihren Schlüpfer, sprang von dem Toilettensitz hoch und schwang ein langes Bein über die Kabinenwand. »Hoppla – na, das war’s dann wohl mit meiner Strumpfhose!«
Christie hörte, wie Dawn landete, und eine Sekunde später ging die Tür auf. Christie ging hinein und beugte sich über Anna, die wie ein Zombie aussah.
»Anna, liebe Anna, was ist denn los mit Ihnen? Haben Sie irgendetwas geschluckt?«
»Nein, nein. Es tut mir so leid, Christie«, schluchzte Anna.
»Was denn, Liebes, was ist denn passiert?« Christie strich Anna das Haar aus dem Gesicht, und diese freundliche, sanfte Geste zertrümmerte die letzten paar Ziegelsteine, die Annas Schmerz unter Verschluss hielten. Sie kippte nach vorn in Christies Arme, und ein Geständnis sprudelte aus ihr hervor.
»Ich habe euch alle belogen. Ich lebe nicht glücklich mit Tony zusammen. Er hat mich im Februar verlassen. Er hatte mir eine Nachricht dagelassen, es sei nicht wegen einer anderen, aber es gab doch eine. Ich war eben erst nach einer Fehlgeburt aus dem Krankenhaus nachhause gekommen. Ich habe ihn so dringend gebraucht, und er war nicht da.«
»Oh, Liebes.« Christie drückte Anna fest an sich.
»Es war meine vierte. Offenbar kann ich kein Baby länger als sechs Wochen behalten.«
»Gott.« Dawn wusste nichts Hilfreiches beizutragen, aber sie hatte das Gefühl, wenigstens irgendetwas Mitfühlendes sagen zu müssen.
»Mir wird gleich schlecht, entschuldigen Sie mich.« Anna stieß Christie rasch beiseite, in sichere Entfernung, und riss den Toilettendeckel hoch. Gelbliche Flüssigkeit quoll aus ihrem Mund. Sie sah aus wie etwas aus Der Exorzist .
»Süße«, sagte Christie mit einem mitleidvollen Seufzer.
»Ich bin ein Wrack.« Anna war jetzt völlig verausgabt. Sie streckte matt eine Hand nach der Klopapierrolle aus und fand keine. Dawn riss jede Menge aus der Kabine nebenan ab und reichte es ihr.
»Männer können so gedankenlose Dreckskerle sein«, sagte Dawn freundlich. Ihr Rock steckte noch immer in ihrem Schlüpfer.
»O Gott, sehen Sie sich bloß Ihre Strumpfhose an«, sagte Anna. »Es tut mir so leid.«
»Anna, das ist doch nur eine Strumpfhose. Reißen Sie sich zusammen!«, erwiderte Dawn mit gespielter Strenge. »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser. Setzen Sie sich, bevor Sie umkippen.«
Sie ließ Anna vertrauensvoll in Christies Obhut zurück. Anna sah zu Boden, um jeden Blickkontakt zu vermeiden – und wünschte, sie hätte es nicht getan.
»O nein, Christie, Sie haben ja Erbrochenes auf Ihrem Rock.«
»Keine Sorge. Das ist sowieso nur ein Spritzer. Ich fahre Sie nachhause, junge Dame. Es geht Ihnen nicht gut. Wann haben Sie denn das letzte Mal etwas gegessen? Sie haben ja nichts als Galle erbrochen. Sie haben schon seit einer ganzen Weile nichts mehr im Magen, stimmt’s?«
»Es geht schon wieder.« Anna ließ sich wieder auf den Toilettensitz fallen. Ihre Beine zitterten wie die eines neugeborenen Fohlens. Sie begriff, dass sie absolut grauenhaft aussehen musste.
Dawn kam mit einem
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