Ein König für San Rinaldi
Irgendetwas musste ihr einfallen, und zwar schnell.
„Sie brauchen gar nichts zu unternehmen, Zahra“, sagte sie so ruhig und energisch wie nur möglich. „Ich will Ihnen Kadir nicht wegnehmen.“ Vielleicht gelang es ihr, die Frau einen Moment abzulenken und durch die Tür auf den Korridor zu fliehen. Wenn das nicht ging, konnte Natalia sich im Schlafzimmer einschließen, zum Telefon greifen und Hilfe herbeiholen.
„Sie lügen!“, schrie Zahra. „Sie lieben ihn und wollen ihn für sich ganz allein. Ich habe es in Ihren Augen erkannt. Sie haben ihm gesagt, dass Sie ein Kind von ihm erwarten, um ihn zu halten. Das klappt aber nicht. Denn Sie werden dieses Kind verlieren.“
Zu Natalias Entsetzen fasste Zahra unter die Falten ihres langen Umhangs und zog einen glänzenden spitzen Dolch hervor.
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Zahra hatte den Verstand verloren. Mit ihr zu reden war sinnlos. Sie würde auf keine vernünftigen Argumente hören. Dazu war sie gar nicht fähig.
„Zuerst hat seine Mutter verhindert, dass er mich heiratet!“, stieß Zahra keuchend hervor und kam langsam näher. „Sie mochte mich nie. In ihren Augen war ich nicht gut genug für Kadir. Und wegen ihrer Lügen und Machenschaften sind jetzt Sie aufgetaucht – eine Europäerin, ein Nichts! Kadir musste Sie heiraten. Aber in Wahrheit will er nicht Sie, sondern mich. Und ich will ihn. Sie stehen zwischen uns und unserem Glück. Darum ist es meine Pflicht, Sie zu töten, wie es meine Pflicht ist, Kadir glücklich zu machen! Ich bin die Einzige, die das kann!“
Bevor Zahra zustechen konnte, musste Natalia die Tür erreichen. Aufgrund ihrer Größe und Sportlichkeit war Natalia im Vorteil. Allerdings wusste sie nicht, wie sie sich gegen einen Angriff mit einem Dolch wehren sollte.
Innerlich bald panisch, wich sie zurück. Zahra ging weiter auf sie zu und hob den Dolch dabei. Allem Anschein nach hatte sie gelernt, mit dieser Waffe umzugehen.
Wenn Natalia unerwartet loslief und zu einer Tür gelangte – dann musste sie sie immer noch aufziehen. In der Zeit würde Zahra sie einholen und mit Sicherheit zustechen.
Was sollte sie bloß tun! Natalia schickte ein Stoßgebet zum Himmel, jemand möge in letzter Sekunde auftauchen und ihr und vor allem ihrem Kind helfen.
Im Herbst arbeiteten weniger Menschen in den Weingärten. An den Hängen reihten sich perfekt zurechtgestutzte braune Stämme in scheinbar endloser Folge.
Giovanni Carini, Natalias Vater, beschrieb liebevoll die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Sorten. Über die Rebsorten sprach er wie ein stolzer Vater, und er kannte all ihre besonderen Eigenschaften.
„Das hier sind die neuen Pflanzen, die Rosa Fierezza uns geschenkt hat“, erklärte Giovanni stolz. „Kreuzen wir diese kräftige Sorte mit unseren, werden wir noch bessere Weine produzieren.“
„Offenbar liegen Ihnen die Weinstöcke am Herzen, als wären sie echte Bürger von San Rinaldi“, scherzte Kadir vorsichtig und lächelte.
„Jeder Mann sollte die Liebe, die ihm entgegengebracht wird, höher schätzen als etwas, das er selbst geschaffen hat. Finden Sie nicht?“, erwiderte Giovanni ernsthaft.
Plötzlich und unerwartet erinnerte Kadir sich an seine Mutter, wie sie in ihren letzten Wochen gekämpft hatte. Obwohl sie körperlich sehr geschwächt gewesen war, hatte sie sich ihren ungebrochenen Willen bewahrt. Und sie hatte ihm gesagt, er könne stolz sein auf seine wahre Herkunft.
„San Rinaldi wird von dir als König profitieren, Kadir. Wenn du Hadiya als dein Erbe angenommen hättest, wärst du ein guter Scheich geworden. Dein Bruder ist ein anständiger und gütiger Mann, er wird seine Sache auch gut machen. Aber du hast die Visionen und die Leidenschaft, die ein wahrer Anführer braucht. Diese Eigenschaften hast du von deinem leiblichen Vater. Darum bitte ich dich, Kadir, vergiss nicht, welche Begabungen in dir stecken, und verachte sie nicht.“
Seine Mutter hätte Natalia sehr gemocht. Und was war mit dem Kind, das Natalia erwartete? Ganz deutlich, als würde sie neben ihm stehen, hörte er die Stimme seiner Mutter: „Verleugne dein Kind nicht, Kadir. Wende dich nicht aus Angst vor dem Ungewissen von ihm ab.“
Vielleicht hatte er tatsächlich Angst zu akzeptieren, der Vater von Natalias Kind zu sein. Natürlich wusste er sehr gut, dass Kondome nicht immer zuverlässig schützten. Natalia gegenüber hatte er das abgestritten. Wahrscheinlich hätte jeder Mann in seiner Situation zunächst
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