Ein König wird beseitigt
Abend lag es Prinz Luitpold und den Ministern vor. Am folgenden Tag, am 9. Juni 1886, wurde in der wieder von Prinz Luitpold geleiteten Sitzung des Ministerrats das Gutachten verlesen, die Entmündigung und Absetzung des Königs und die Regentschaft Prinz Luitpolds beschlossen und am 10. Juni öffentlich verkündet.
Das Gutachten hat ohne Untersuchung des Königs und ohne Befragung der Hofärzte Paranoia (primäre Verrücktheit) und Geistesschwäche mit weiterem Verfall der geistigen Kräfte und mit dauerhafter Regierungsunfähigkeit behauptet. Es war unter Vernachlässigung der damals bekannten Regelnpsychiatrisch-forensischer Begutachtung und unter Missachtung von Normen ärztlicher Ethik erstattet worden.
Das Gutachten selbst stützt sich ausschließlich auf negative Aussagen über den König von wenigen, überwiegend zweifelhaften Zeugen. Positive Aussagen über den König wurden nicht zugelassen.
Prinz Luitpold und die Regierung beschränkten sich nicht darauf, dem König auf der Grundlage der bayerischen Verfassung von 1818 und der rechtsergänzenden Interpretation von Titel II §11 durch Max von Seydel, die Macht zu entziehen. Sie entzogen ihm auch die Verfügung über seine eigenen – zivilen – Angelegenheiten (Entmündigung). Als dritter Schritt des Eingriffs in seine Rechte wurde dem König auch die Freiheit entzogen. Prinz Luitpold ermächtigte Gudden mit einem einfachen Schreiben, das er dem Psychiater nach Neuschwanstein mitgab, zur Festnahme des Königs, zum Transport nach Schloss Berg und zur ärztlichen Behandlung. Dieser letzte Schritt des Verfahrens gegen den König, der radikale Freiheitsentzug, war weder durch die Verfassung noch durch allgemeines Recht gedeckt. Wir stehen hier vor der Frage, weshalb der Machtentzug mit einem solchen, die königliche und die persönliche Würde zerstörenden Entzug jeglicher erträglichen Lebensperspektive verbunden werden musste. Vermutlich diente diese Maßnahme der Verminderung des Risikos der Indienststellung des abgesetzten Königs für Aufruhr gegen die neuen Machthaber. Es liegt nahe, in der hoffnungslosen Perspektive psychiatrischer Internierung, die dem König aus regelmäßigen Berichten über seinen Bruder Otto bekannt war, das Kernmotiv für den Freitod zu sehen.
Unsere Analysen des Gutachtens und seiner Grundlagen kommen zum Ergebnis, dass die Kernaussagen Guddens – Geisteskrankheit und Geistesschwäche – falsch sind. Der König hat sich auch in der extremen Belastung nach Festnahme würdig, angemessen und ohne irgendein Zeichen von Psychose oder Geistesschwäche verhalten. Der Psychiater Gudden hat abweichende MeinungsÄußerungen unterdrückt und, unmittelbar bevor er zum tödlich endenden Spaziergang mit dem König das Schloss Berg verließ, an den Vorsitzenden Minister Lutz, wahrheitswidrig telegrafiert: «… Hier geht es bis jetzt wunderbar gut. Persönliche Untersuchung [- die nicht stattgefunden hatte -] hat übrigens das schriftliche Gutachten nur bestätigt.»
Von diesem Spaziergang kehrten beide nicht zurück. Der König kam wahrscheinlich durch Ertrinken im See ums Leben, nachdem er zuvor Gudden, der ihn vermutlich zurückhalten wollte, in einem kurzen Kampf geschlagen, gewürgt und unter Wasser gedrückt hatte. Nach allem, was ihm Gudden angetan hatte, wäre verständlich, dass sich Ludwig II. nicht durch den Gutachter abhalten ließ, seinem eigenen Leben durch Ertrinken ein Ende zu setzen.Als alternative Erklärung der Todesursache wird ein Schlaganfall des Königs während eines Fluchtversuchs diskutiert.[ 3 ]
Die Suche nach einer Antwort verweist auf unser Rahmenthema – die historischen Formen des Machtentzugs und der Beseitigung unerwünschter oder ungeeigneter Herrscher. Die Psychiatrie war im 19. Jahrhundert im Verlauf zunehmender Verrechtlichung und wachsender Zivilisation zum Instrumentarium von verfassungsrechtlich geregelten Machtentzugsverfahren aufgestiegen. Sie diente einmal den Usurpatoren durch ein von ihnen nicht zu verantwortendes Expertenurteil über die Regierungsunfähigkeit, zum anderen der Sicherung ihrer neu erlangten Macht durch die Beseitigung des entmachteten Herrschers in Gestalt seiner Wegschließung. In früheren historischen Epochen war dem Risiko, das mit der Verfügbarkeit entmachteter Herrscher für die Legitimierung neuer Umsturzbewegungen verbunden ist, von den Usurpatoren durch Tötung, Einkerkerung oder Verbannung begegnet worden. Tatsächlich zeigte sich in Altbayern nach der
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