Ein Komet fält vom Himmel
Ihres Lebens in einem Zimmer leben, dessen Tür keine Klinke hat …«
Mitternacht in Europa.
Der 5. Januar. Null Uhr.
Die Glocken begannen zu läuten.
Peter Pohle verschlief diesen Beginn des 5. Januar, betäubt von zwei neuen Injektionen. Erika saß mit den Zwillingen am Fenster, der Komet verbarg sich hinter einer Wolkendecke, aber diese Decke begann nicht rot zu werden, flammte nicht auf, verdunstete nicht zu kochendem Wasser, kein brüllendes Rauschen erfüllte die Luft … es war ganz still, nur das Läuten der Glocken schwang durch die Kälte und drang tief ins Herz.
»Wir wollen beten –«, sagte Erika zu den Kindern. Ihre Stimme schwankte, sie blickte hinüber zu dem Bett, wo Peter lag, bleich, als sei er schon gestorben. »Beten für Vati, daß er bald gesund wird. Beten, daß der liebe Gott die Welt immer so schön erhält wie sie jetzt ist. Beten, daß … daß …« Sie senkte den Kopf.
»Mutti, du weinst ja«, sagte Monika. »Warum weinst du denn, Mutti? Wegen Papi?«
»Ich bin so glücklich«, sagte Erika. »So glücklich …«
»Und da muß man weinen, Mutti?«
»Ja, mein Kleines, ja.« Sie zog die Kinder an sich und dachte mit Schaudern daran, daß diese jetzt schon einige Stunden tot gewesen wären, wenn sie nicht zum erstenmal gegen ihren Mann gekämpft hätte. Vergiftet von dem eigenen Vater, der einen Kometen vom Himmel fallen sah.
»Wir wollen doch für Vati beten, Mami … Oder mußt du weiter weinen …?«
Erika schüttelte den Kopf. Sie faltete die Hände, und die Zwillinge taten es ihr nach. Dann beteten sie, und die Glocken läuteten dazu, und in diesem Augenblick hätte die Welt untergehen können, so frei waren ihre Seelen und losgelöst von allem Irdischen.
Später schliefen die Zwillinge in dem zweiten Bett, das man ins Zimmer gestellt hatte. Erika saß wieder am Fenster und beobachtete den Schnee, der lautlos aus dem grauen Himmel rieselte. Die Glocken schwiegen … sie hatten eine Stunde lang geläutet, und es hatte bei den Pfarrämtern Beschwerden, böse Worte und massive Beschimpfungen gehagelt.
Um vier Uhr früh kam der Chefarzt ins Zimmer. Er war etwas angeheitert, roch nach Schnaps und benahm sich wie nach einer Karnevalssitzung. Er setzte sich bei Peter Pohle auf die Bettkante, tätschelte dem Betäubten die Wangen und lachte.
»Daß er das verschlafen muß!« sagte er höflich. »Die Erde rumpelt weiter ihre Bahn. Morgen früh bekommt er keine Injektion. Das will ich sehen, was er sagt, wenn ich ihn begrüße: Guten Morgen, mein Lieber. Heute ist der 6. Januar …«
Erika Pohle rührte sich nicht von ihrem Fensterplatz. Aber in ihren Augen lag so viel Verachtung, daß der Chefarzt sofort aufhörte, dem schlafenden Peter das Gesicht zu tätscheln. Er schlug die Beine übereinander und bemühte sich, trotz seiner Trunkenheit aufrecht zu sitzen und den Kopf ruhig zu halten.
»Haben Sie keinen Sinn für Humor, gnädige Frau?« sagte er etwas zu gönnerhaft. »Gerade jetzt sollten Sie überschäumen vor Glück.«
»Warum?« Erika blickte hinüber zu den Zwillingen. »Weil Sie sich über meinen Mann lustig machen?«
»Es scheint bei den Astronomen wie bei den Meteorologen zu sein: Sie haben immer erst hinterher eine Erklärung, warum alles anders gekommen ist. Wie unsere Pathologen: Wenn der Patient tot ist und sie ihn seziert haben, sagen sie, was wirklich los war. Auf die Sektion des Kohatek bin ich sehr gespannt.«
»Sie haben doch selbst an den Untergang der Welt geglaubt …«
»Ich? Nie!« Der Chefarzt lachte etwas unsicher.
»Hätte man Sie sonst mit Gewalt im Kasino festgehalten?«
»Übereifrige Beamten, das war alles. Typisch deutsche Überperfektion, dieses Mal auf höchster Geheimhaltungsstufe. Wir haben das als Witz angesehen.«
»Auch die schwere Verletzung Ihres Oberarztes?«
»Bin ich mein Oberarzt?« Der Chefarzt erhob sich abrupt. Plötzlich wirkte er sehr nüchtern. »Wir werden uns über die Fülle von Problemen, die sich nun ergeben, noch eingehend zu unterhalten haben, bevor weitere Entscheidungen fallen.«
»Das ist es, was ich fragen wollte: Wenn mein Mann aufwacht, können wir dann endlich nach Hause?«
»Sie, gnädige Frau, und die Kinder jederzeit.«
»Und mein Mann?«
»Er nicht!«
»Warum nicht?«
»Er wurde polizeilich und durch einen Beschluß des Verwahrungsrichters eingewiesen … ich kann ihn auch nur wieder nach gründlichen Untersuchungen entlassen.«
»Was wollen Sie denn untersuchen?«
»Den Geisteszustand Ihres
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