Ein Kreuz in Sibirien
und wen vertreten Sie?« fragte Olrik und nahm Platz.
»Ich diene Christus, wie Sie. Und ich habe die Aufgabe, allen Menschen in Not die tröstende Kraft der Kirche zu schenken. Das Wort Gottes, das Brot der Ärmsten der Armen. Die Welt ist voller Märtyrer, nur weiß das keiner – oder es will niemand wissen, weil es in keine politische Richtung paßt. Da gibt es Politiker, die beten, wenn Presse, Funk und Fernsehen dabei sind, knien vor Ehrenmalen nieder und träumen, daß die Weltöffentlichkeit ergriffen unter Tränen schluchzt. Dabei machen sie uns nur blind vor der täglichen Wahrheit und lassen die Politik zur praktizierten Lüge verkommen. Wer mit Sowjetrußland Geschäfte machen will, etwa Erdgas für ganz Europa bestellt und in die Gegenrichtung Tausende Tonnen EG-Butter zum von europäischen Steuerzahlern subventionierten Billigpreis liefert, der verschweigt natürlich die mehr als fünf Millionen Zwangsarbeiter an den Großbauprojekten der Sowjetunion, zu denen zum Beispiel die sibirische Pipeline für Erdgas gehört. Allein dort sind rund hunderttausend Sklaven im Einsatz – von Urengoj bis Tscheljabinsk.« Battista blätterte in seinem Brevier, als suche er eine neue Lesestelle. »Ich habe noch nie gehört, daß ein Politiker öffentlich gebetet hätte: ›Gott im Himmel, beschütze die Arbeitssklaven in Sibirien, laß sie das Grauen der Straflager überleben, und gib ihnen Stärke gegen alle Unmenschlichkeit um sie herum!‹ – Oder haben Sie solch ein Politikergebet schon mal gehört? Sie werden es nie hören.«
Er holte tief Atem und sah Pater Olrik von der Seite an. »Das ist meine Aufgabe, Stephanus: Den getretenen Kreaturen, diesen Menschen jenseits aller Menschlichkeit und Würde, allen Rechts und aller Hoffnung, ein wenig Kraft zu geben durch das Wort Gottes und durch tätige Nächstenliebe.«
»Hier? Von Rom aus?« Pater Olrik blätterte ebenfalls in seinem Brevier. Ein paar Spaziergänger schlenderten an ihnen vorbei und warfen einen Blick auf die beiden meditierenden, weltvergessenen Geistlichen. »Schicken Sie Lebensmittelpakete?«
»Die nie ankämen! Halten Sie mich für blöd?«
»Gebete in römischen Kirchen werden kaum helfen, Monsignore.«
»Endlich werden Sie sarkastisch. Nun läßt sich freier reden.« Giovanni Battista lehnte sich etwas zurück und blickte in das Blätterdach über sich. »Um noch einmal kurz von mir zu sprechen, und ich tue es, weil ich großes Vertrauen in Sie setze: Meine Tätigkeit würde vom Heiligen Stuhl nie gebilligt und nie abgesegnet werden. Nicht mehr! Wir sind ein kleiner Kreis, der illegal arbeitet. Eine Handvoll Priester, verschworen und unbekannt wie die Prediger der Urkirche in den Katakomben von Rom. Wir haben im Vatikan alle unsere offizielle Aufgabe, aber außerdem und in noch höherem Maße unsere Arbeit im Untergrund.«
»Und Sie wollen mich, wenn ich Sie recht verstehe, in diesen Untergrund hineinziehen. In die neue Katakombe. – Warum gerade ich?«
»Hineinziehen – das klingt so kriminell, Pater Stephanus. Ich werde Ihnen die Situation schildern, und dann entscheiden Sie nach Ihrem Gewissen.«
»Das ist die raffinierteste Umschreibung eines Befehls für einen Priester. Wir leben nur in einem Auftrag Gottes.«
Monsignore Battista blätterte wieder in seinem Brevier. »Wir haben uns eingehend mit Ihnen beschäftigt, Stephanus. Wir kennen Sie genau. Ihre Eltern hatten ein Gut bei Kurla, südlich von Reval. Beim Vormarsch der Russen mußten sie flüchten. Mit vier Pferden, zwei Leiterwagen und einem Auto-Union-Wagen. In Deutschland kamen sie an mit einem Leiterwagen, einem Pferd und vier Personen. Ihr Bruder erfror auf der Landstraße bei Ligatne. Ihre Schwester starb an Entkräftung an der Straße von Groß-Bliden. Ihre Mutter war hochschwanger, und Sie wurden auf der Flucht geboren, in Labiau, am Kurischen Haff. In einem Keller, unter den Einschlägen sowjetischer Stalinorgeln. Den Westen erreichten Ihr Vater, Ihre Mutter, Ihr Großvater mütterlicherseits und Sie, der Säugling – in Papier und Lumpen gewickelt. In Niedersachsen, in Hannover, wuchsen Sie dann auf, studierten in Münster Theologie und wurden zum Priester geweiht. Was Sie aber vor allen anderen auszeichnet: Sie wuchsen auf Geheiß Ihres Vaters zweisprachig auf; deutsch und russisch. ›Wenn wir einmal zurückkommen‹, sagte er immer, ›muß der Junge Russisch können!‹ Außerdem sprechen Sie Französisch, Englisch und Italienisch. Latein natürlich auch. Das
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