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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Stephanus.«
    »Was haben Sie von mir erwartet? Einen Luftsprung? Endlich darf ich nach Sibirien! Komm an meine Brust, Brüderchen Giovanni, laß dich küssen. Bist ein Kerl, vor dem der Teufel seinen Schwanz einrollt? Laß uns einen trinken. Nastarowne …«
    »So einen brauchen wir!« Battista faltete die Hände über der Brust. »Genau so einen wie Sie. Meine Wahl war richtig! Ich habe Sie aus neunundvierzig Kandidaten, die ebenso ahnungslos sind, wie Sie es bis eben waren, ausgesucht. Mein Gefühl sagte mir: Das muß er sein!«
    »Ich habe noch nicht ja gesagt, Monsignore!«
    »Das erwarte ich auch nicht. Jede Bedenkzeit ist Ihnen zugestanden. Nur vergessen Sie nicht: Mit jedem Tag wird die verlassene Gemeinde im Lager Surgut kleiner. Und jeder Tag ohne Gottes Wort ist eine Last für diese lebenden Toten! Sie beziehen ihre letzte Kraft nicht aus den Wassersuppen und dem glitschigen Brot, sondern aus dem inneren Feuer und der Hoffnung des Glaubens. Ich sagte es schon am Telefon: Wir brauchen Sie!«
    »Ist morgen früh genug?« fragte Olrik und blickte hinauf in den übersonnten Frühlingshimmel.
    Sibirien. Ein Straflager. Die Endstation seines Lebens. Surgut am Ob – sein Grab. Eine einzige Gewißheit war ihm sicher: Von dort, aus Sibirien, kam er nicht mehr zurück.
    »Es ist übermenschlich, was ich von Ihnen verlange«, sagte Battista und legte den Arm um seine Schulter. »Ich weiß, daß sich Verzweiflung in Ihnen ausbreitet. Aber Sie werden durchkommen, Stephanus. Und Sie sind kein Feigling, wenn Sie mit Nein antworten. Das sollen Sie wissen!« Er lächelte wie ein Vater, der seinem Sohn etwas Gutes zu sagen hat. »Wollen Sie jetzt allein sein oder lieber mit mir einen guten Wein trinken?«
    »Ich möchte trinken, Monsignore.« Pater Olrik hob den Kopf.
    Seine Augen waren wie verschleiert. »Gott verzeih mir – aber jetzt möchte ich mich besaufen.«
    Battista erhob sich von der Bank und half Olrik hoch. »Wir werden wie leere Schläuche sein … und dann bringe ich Sie nach Hause. Ertränken Sie Ihre Angst, und machen Sie Ihren Mut frei.«
    Auch drei Tage Bedenkzeit sind keine große Frist, wenn man lebend in ein Grab steigen soll. Olrik war mit sich und seiner Entscheidung allein. Es gab niemanden, den er um Rat fragen konnte. Keinen, dem er seine innere Qual gestehen wollte.
    Er war einsam in dieser Welt. Seine Mutter starb schon 1958 an einer Lungenentzündung. Sein Vater kam aus einem Heilbad nicht zurück; am letzten Tag des Kuraufenthaltes, als die Ärzte ihm blendende Gesundheit bescheinigt und den Schlußbericht geschrieben hatten, fiel er in der Wandelhalle des Kurhauses mit einem Herzhinterwand-Infarkt um und war sofort tot. Die betroffenen und sehr verlegenen Ärzte behaupteten gegenüber Pater Stephanus, einen Hinterwand-Infarkt könne man auf keinem EKG erkennen, das sei eine ganz tückische Angelegenheit. Im Jahre 1973 war das gewesen, und Olrik selbst hatte die Totenmesse für seinen Vater gelesen. Zweisprachig, deutsch und russisch, so wie es sich sein Vater immer gewünscht hatte. Über die Hälfte seines Herzens war im Osten geblieben, das hatte er stets gesagt.
    Jetzt saß Stephan Olrik nun vor den Fotos seiner Eltern, starrte ab und zu aus dem Fenster auf die Straße und sah das morgendliche Straßenleben Roms wie im Nebel und verzerrt an sich vorbeirauschen. – Sibirien – das Wort hatte sich in ihn eingebrannt. Sibirien. Ein Weg ohne Rückkehr. Eine Einbahnstraße ins Vergessen. »Bleiben Sie zu Hause, solange Sie wollen«, hatte sein Vorgesetzter, der Prälat, voller Verständnis am Telefon gesagt, als er um Urlaub bat. »Gott gebe Ihnen Kraft …«
    Gott gebe die Kraft … das war ein leicht dahingesagtes Wort, wie Olrik plötzlich mit innerem, großem Erschrecken feststellte. Ein paarmal hatte er auf das Kreuz an der Wand geblickt, aber es waren nur zwei Holzstücke, überkreuzt geleimt – nichts strömte von ihnen aus zu ihm hinein, keine Stärke, kein Trost, keine Ruhe, nicht einmal Besänftigung.
    Zwei Tage lang war er durch Rom und hinaus über die Via Appia antica gewandert, ziellos, sich badend im lärmenden Leben der Großstadt und in der sanften Stille der Natur. Er hatte auf den römischen Säulenresten gesessen und dem Gesang der Vögel zugehört, hatte den Wind in den Pinien gesehen, an Blumen gerochen und die Käfer in den Gräsern beobachtet. Er lag im Schatten der Olivenhaine, blickte den ziehenden Wolken nach, roch den Morgentau in den Moosen und sah die Tauben,

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