Ein Kreuz in Sibirien
alles ist ein großes Kapital, das wissen Sie, Pater Stephanus. Noch schwerer aber wiegt, daß Sie das Collegium russicum besucht und auch Ihre orthodoxe Weihe empfangen haben. Sie könnten in Brescia predigen und als Pope in Irkutsk die Liturgie singen. Das alles macht Sie für uns zu einem idealen Partner.«
»Ich arbeite bereits in einer illegalen Stellung«, sagte Olrik steif.»Ich muß Ihnen allerdings freimütig gestehen, daß ich mir ein Priesteramt anders vorgestellt habe, als russische Zeitungsartikel zu übersetzen.«
»Aber Sie tun es seit zwei Jahren, getreu dem Gehorsam, den Sie geschworen haben.«
»Ich bin Ordensgeistlicher und beuge mich der Weitsicht meiner Oberen. Ob ich zum Bau einer Kirche Urwälder in Paraguay rode oder in Rom an einem Schreibtisch sitze und sowjetische Zeitungen lesen muß – wenn es denn nach höherer Einsicht gottgefällig ist und …«
»Ich brauche Sie als Priester, Stephanus!« unterbrach ihn Battista ernst. »Sie sollen ein Amt haben.«
Verblüfft starrte Olrik seinen Nebenmann an. Monsignore Battista blinzelte ihm zu, als habe er einen nicht ganz reinen Witz ausgesprochen. »Man … man kann doch kein Priesteramt verleihen, das illegal ist …«, stotterte er.
»Ihr Ordensgeneral hat ja gesagt. Alles andere leiten wir ab von dem Auftrag Christi: ›Gehet hin in alle Welt.‹« Monsignore Battista faltete die Hände um sein Brevier. Er wirkte sehr ins Gebet versunken, wenn man ihn jetzt im Vorbeigehen betrachtete. »Die Entscheidung aber liegt, das ist Ihr Vorteil bei der ganzen Sache, ganz allein bei Ihnen. Wir bitten Sie … weiter nichts. Mehr können wir auch nicht.«
»Wo soll ich eine Pfarre übernehmen?« fragte Pater Olrik. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er spürte tatsächlich seinen Pulsschlag bis in die Mundwinkel. In seinem Schädel rauschte das Blut, als passiere es dort einen Kocher. Er hätte jetzt so gern einen Spiegel gehabt, um zu sehen, ob sein Kopf glutrot war.
»In Rußland!« antwortete Battista.
»Aha …«
»Genau umrissen: In Sibirien.« – Battista hob den Blick in den von weißen Haufenwolken durchsetzten Himmel. »Sie können sofort nein sagen, Stephanus.«
»Ich habe noch keine Äußerung getan, Monsignore.«
»Sie haben bei dem Wort Rußland aha gesagt und sind dann versteinert.«
»Ich hatte auf das Wort gewartet.«
»Und jetzt denken Sie: Das ist ungeheuerlich. Das grenzt an Irrsinn! Ist es so?«
»Ich bin überwältigt von der Vorstellung, daß Sie Priester nach Sowjetrußland einschleusen. Diese Betroffenheit müssen Sie mir zugestehen, Monsignore.«
»Bis zu Papst Pius XII. gab es im Vatikan eine Dienststelle, die sich mit dem Einsatz illegaler Priester in der Sowjetunion befaßte. Sie wissen: Pius XII. haßte den Bolschewismus; er haßte ihn so glühend und leidenschaftlich, daß die Euphorie des Hasses ihn sogar mit den Nazis unter Hitler paktieren ließ. Jedenfalls tolerierte er Hitler, um Stalin zu vernichten. Diese blinde Leidenschaft war verheerend, aber auch der Papst ist nur ein schwacher Mensch. Gott verzeihe ihm. Die Blutopfer unserer Kirche in Rußland waren ungeheuer. Das NKWD, wie der sowjetische Geheimdienst damals hieß, schlug mit aller Macht zu. Meist wurden unsere Brüder durch Verrat entlarvt und endeten in Straflagern oder nach der Folter in den Kellern des NKWD. Wir hatten heimliche Pfarreien in ganz Rußland aufgebaut – von Minsk bis zum Kap Dechnew im nördlichsten Sibirien, wo die grausamsten Straflager liegen. Ob in Karaganda oder an der Eismeerstraße, ob in Kolyma oder an der Trasse neuer Eisenbahnen in Sibirien, ob in Tjumen oder in den Holzfällerlagern am Ob – überall arbeiteten unsere heimlichen Priester.
Wer weiß schon, daß auf den Kurilen-Inseln über 6.000 weibliche Häftlinge den roten Kaviar in Dosen füllen? Den schwarzen Kaviar füllt man in der Leninfabrik in Gurjew ab, die von Häftlingen erbaut wurde. Die gesamte Industrialisierung Rußlands war nur möglich durch den Einsatz unzähliger Sträflinge. Extra für diese Großprojekte, die später die ganze Welt bewunderte – die Eroberung der unmeßbaren Bodenschätze Sibiriens –, wurde 1930 die ›Lager-Hauptverwaltung‹ geschaffen, die berüchtigte GULAG! Die industrielle Großmacht Sowjetunion steht auf einem Fundament aus den Knochen der Millionen Strafgefangenen. Jeder westliche Politiker weiß das – und schweigt verschämt. Wer kennt nicht den Namen Workuta?«
Battista drehte sein Brevier zwischen den Händen.
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