Ein Kreuz in Sibirien
Tjumen mit jeder Minute geizte und herumflitzte wie ein Wiesel beim Frühlingsanfang.
Zunächst war der Gang zum Genossen Kulturbeauftragter unerläßlich. Ohne seine Zuweisungen war alles unmöglich. Man versuche einmal, auf dem Markt auch nur eine Kartoffel zu kaufen und mit der offenen leeren Hand zu bezahlen … dieses Geschrei! Und Abukow stand da ohne eine Kopeke, aber mit einer Liste, die – zählte man alle Posten zusammen – einige tausend Rubel wert war.
»Unser Theatergenie!« sagte der Kulturbeauftragte freudig, als Abukow , ohne warten zu müssen, zu ihm hereingelassen wurde. » Rassim hat Sie also nicht erschlagen. Selbst beim zweiten Anlauf nicht. Das ist ein Fortschritt! Der Kulturgedanke schlägt Wurzeln. Was haben Sie vorzutragen, Victor Juwanowitsch ?«
Abukow überreichte ihm die lange Liste und wartete, bis der vornehme Genosse sie voll Interesse, wortlos und mit verhaltenem Räuspern durchgelesen hatte. Dann legte er die Liste auf den Schreibtisch und blickte Abukow an.
»Sehr imposant«, sagte er, als Abukow erwartungsvoll schwieg.
»Die Grundausstattung ist das. Holz, Platten, Nägel, Kabel, Birnen, Eisen und anderes technisches Material können wir aus dem eigenen Bestand beschaffen. Das Frauenlager in Tetu-Marmontoyai kann Stoffe liefern, Abfall aus der großen Kleiderfabrik und der Wäscherei. Dort könnte man auch die Stoffe einfärben.«
»Imposant!« sagte der elegante Genosse noch einmal. »Viel Glück.«
Abukow beugte sich etwas vor. »Was dringend fehlt, steht auf dieser Liste.«
»Das habe ich begriffen.«
»Ich möchte es von Ihnen, Genosse.«
»Von mir? Victor Juwanowitsch , bin ich der Zulieferer des Bolschoi-Theaters? Sie haben die Genehmigung, ein Theater in einem Straflager zu organisieren. Sie haben dazu eine eigene Künstlergewerkschaft gegründet, wir beobachten das schöne Projekt mit Wohlwollen – was wollen Sie mehr?«
»Rubel, Genosse.«
»Die Finanzierung ist Sache der Gewerkschaft.« Der Kulturbeauftragte lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Auf seinem weißen Hemd glänzte die Sonne. »Wir geben Zuschüsse, Förderungsprämien, in Ausnahmefällen sogar Kredite, zinslos, wir sind ja ein kulturbewußter Staat – aber darüber hinaus, mein Lieber.«
»Wieviel?« fragte Abukow nüchtern.
»Wenn ich Ihre Liste durchrechne, fallen mir die Augen zu. Ich habe nie daran gedacht, in Surgut eine Oper wie ein Charkow zu bauen. Victor Juwanowitsch – es gibt Zweipersonenstücke, die Begeisterung hervorrufen. Ich habe sogar den Faust gesehen, von fünf Personen gespielt, und das Publikum war hingerissen. Die höchste Kunst der Kunst ist die Improvisation! Müssen Sie gleich mit Aida anfangen oder den Meistersingern? Legt mir da eine ganze Orchesterliste vor! Ein Vorschlag, Abukow : Sie treten zunächst allein auf, rezitieren Balladen und spielen Monologe. Kennen Sie Marcel Marceau, den Franzosen? Den großen Pantomimen? Der stellt allein eine ganze Oper dar, und alle begreifen es! Das ist Kunst! Mit einem Sack voll Rubel kann jeder anfangen.« Er wippte wieder nach vorn und blickte Abukow ohne Falsch an. »Wissen Sie, was die Kirgisen sagen? Nicht der Sattel ist wichtig, sondern das Pferd! – Das Pferd haben Sie, Abukow … nun reiten Sie!«
Nach zwei Stunden zähen Ringens hatte Abukow es dann doch erreicht, daß er sechs amtliche Bezugsscheine für Stoffe, zwei Geigen, eine Flöte, eine Trompete und eine Handharmonika erhielt. An Bargeld gab der Kulturbeauftragte gegen einen Kreditvertrag 300 Rubel. Falls die Zentrale in Swerdlowsk den Betrag als Zuschuß anerkannte, sollte der Kredit gestrichen werden. Bis dahin haftete Abukow mit seinem Lohn für die 300 Rubel. Außerdem versprach der elegante Genosse, alles mobil zu machen, was das ›Theater Die Morgenröte‹ unterstützen könnte, vor allem Gelder aus dem Fonds für den kulturellen Aufbau Sibiriens.
»Das kann dauern«, sagte er aber noch, als er Abukow verabschiedete. »Ein langer Beamtenweg ist es. Jeder will seine Unterschrift und seinen Stempel drunterdrücken, denn jeder betrachtet sich als äußerst wichtig. Ich bin gewissermaßen die Endstation und kann nur die Bahnen abfertigen, die bei mir eintreffen. So ist das, Victor Juwanowitsch : große Ideen, große Pläne, aber ein beschissener Weg zur Wirklichkeit. Viel Glück, mein Wohlwollen ist immer bei Ihnen!«
Davon hatte Abukow wenig, aber was er bisher erreicht hatte, genügte schon für einen Anfang. Es war – seien wir ehrlich – bereits
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