Ein Kreuz in Sibirien
junger Freund.«
»Warum lassen Sie sich nicht operieren?« rief Abukow betroffen.
»Was soll das nutzen? Da 70 Prozent der Ösophaguskarzinome subphrenische Metastasen ausstreuen, wird man bei mir eine Laparotomie machen, die Metastasen in der Bauchhöhle feststellen und mich sofort wieder zunähen. Ich bin inkurabel geworden, Victor Juwanowitsch . Woher ich Krebs habe? Nur ahnen kann ich das … ich habe über 40 Jahre lang gesoffen wie ein durchlöcherter Eimer. Die Leber hat's ausgehalten, aber die Speiseröhre nicht. Das ist ein medizinisches Kuriosum. Mein junger Freund, überstehen Sie Sibirien ohne großes Saufen – das ist ein väterlicher Rat. Manchmal glaubt man, der Wodka sei der einzige, wahre Himmel. Aber es gibt keinen Himmel auf Erden!«
»Die Liebe, Dr. Semlakow …«
»O Teufel! Sind Sie so weit, Victor Juwanowitsch ? Kaum hier und schon himmelhoch jauchzend?«
»Ja. Sie ist eine Kollegin von Ihnen.«
»Eine Ärztin?«
»Die Lagerärztin von JaZ 451/1 in Nowo Wostokiny .«
»Vorsicht, Victor Juwanowitsch ! Bloß Vorsicht! Diese Gesundschreiber-Weiber sind die Hölle. Wie konnte Ihnen das passieren?«
»Es war wie eine Neuschöpfung der Welt, Dr. Semlakow …«
»Sie sind also doch ein bißchen verrückt geworden.« In Dr. Semlakows Stimme war deutliches Bedauern.
»Ohne Larissa fühle ich mich unendlich einsam. Darum laufe ich jetzt auch hier durch die Nacht. Kennen Sie das: Man atmet, und doch fehlt einem die Luft. Genauso ist es.«
»Dann sind Sie an Ihre Larissa bereits so verloren wie ich an meinen Krebs«, sagte Dr. Semlakow , trank Wein, biß ein Stück Hefekuchen ab und schluckte es wieder mit einem Ächzen. »Eine Lagerärztin. Ausgerechnet so eine! Gibt es in Sibirien nicht Tausende von anderen Mädchen?«
»Nicht und nie mehr so eine wie Larissa Dawidowna . Sie kennen Sie nicht, Genosse Doktor.«
»Mir genügt ihre Tätigkeit. Ich habe Erfahrung darin seit über 40 Jahren, mein Lieber. Wer einen nackten Männerarsch betrachtet und ›arbeitsfähig‹ brüllt, ist für mich keine Frau zur Liebe mehr!« Er warf einen forschenden Blick auf Abukow . »Oder sind Sie pervers, Victor Juwanowitsch ? Natürlich, so was gibt's auch. Der Mensch ist das wundersamste Tier.«
»Sie sollten Larissa kennenlernen, Dr. Semlakow «, sagte Abukow eindringlich. »Wenn es möglich ist, bringe ich sie einmal nach Tjumen mit. Sie müssen sie sich ansehen.«
»Warum gerade ich?«
»Sie haben mir vorhin einen wichtigen Abschnitt aus Ihrem Leben erzählt – warum gerade mir?«
»Weil ich Sie – zum Teufel – sympathisch finde, ohne das erklären zu können.«
»Ebensowenig kann ich es erklären, daß ich großes Vertrauen in Sie habe.« Abukow lächelte und nahm sein Glas, prostete Dr. Semlakow zu und trank einen Schluck. »Es gibt im Leben seltene Stunden, die sich zur Offenbarung eignen.«
»Das hätte ein Pope sagen können!« meinte Semlakow ahnungslos und merkte auch nicht, wie sich Abukow plötzlich in sich zurückzog. »Wenn Ihnen an meinem Urteil etwas liegt, Victor Juwanowitsch : Gut, schleppen Sie das Lageraas vor meine Augen; ich warne Sie aber im voraus: Ich hasse solche Weiber! Zuviel Unglück, zuviel Krüppel und Tote habe ich durch diese Sorte Teufel schon gesehen. Und selbst wenn sie aussieht wie eine Madonna von Botticelli und eine Stimme hat wie eine Äolsharfe – ich werde sie verachten und es ihr auch zeigen!«
Man blieb noch eine Stunde zusammen im › Sibirskaja ‹, trank noch eine Karaffe Wein, und dann begleitete Dr. Semlakow , ein wenig schwankend schon, Abukow zum Wohnheim, klopfte ihm mit einem verlorenen Lächeln auf die Schulter und sagte zum Abschied:
»Mein junger Freund, sind Sie ein so großer Idealist, daß es auf der weiten schönen Welt gerade Surgut sein muß?«
»Ja, es muß Surgut sein, Dr. Semlakow . Ich habe dort eine Aufgabe.«
»Lebende Tote zu versorgen und ihren Todesengel zu lieben?«
»Ist das nicht ein ungeheurer Auftrag?«
»Da haben Sie recht … ich zweifle nur, ob Sie das Ihr ganzes Leben lang durchhalten!«
In dieser Nacht schlief Abukow wieder nicht. Er saß am Fenster seines Zimmerchens, starrte auf den stillen Platz vor dem Haus, trank die Wodkaflasche leer und sehnte sich nach Larissas offenen Armen, als könnte ihm das helfen bei seiner Flucht vor der grausamen Wahrheit.
Natürlich ist es unmöglich, in zwei Tagen alles herbeizuschaffen, was man für den Beginn eines neu zu gründenden Theaters braucht, obwohl Abukow in
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